Ausland04. Juni 2022

Rotarier im neuen libanesischen Parlament

Sein und Schein der libanesischen Protestbewegung

von Karin Leukefeld

»Protestbewegung zieht ins Parlament ein«, meldete die »Tagesschau« der ARD am 17.05.22, »Reformer im Libanon vor schwieriger Aufgabe« hieß es beim Staatssender Deutsche Welle am 19. Mai nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse der Parlamentswahl im Libanon vom 15. Mai. Die »Reformkräfte« im Libanon hätten »einen Achtungserfolg errungen«, so die Deutsche Welle: »Sie schicken 13 Abgeordnete ins Parlament, während ein Hisbollah-Verbündeter Verluste einfuhr. Eine Chance, das Land aus der Krise zu führen?« Ähnlich äußerte sich auch das »Luxemburger Wort« in einen Artikel »Mehrheit spricht sich für Wandel und Reformen aus«.

Westliche Botschafter hatten schon vor den Parlamentswahlen offen für »Wandel« geworben. Der deutsche Botschafter rief »Libanesische Frauen! Libanesische Ehemänner, Väter von Töchtern, Brüder von Schwestern« auf, ihre Zweitstimme zu nutzen, »um weibliche Kandidaten zu unterstützen! … #WähltGleich #WähltdenWandel#«, war auf dem Twitter-Konto der deutschen Botschaft zu lesen.

Mit 41 Prozent war die Wahlbeteiligung landesweit deutlich niedriger als bei den Wahlen 2018, als 49 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben. Der Rückzug von Saad Hariri und seiner Zukunftspartei nutzte den 13 Kandidaten und Kandidatinnen, die als »Unabhängige« oder »Reformer« ins Parlament einziehen konnten. Eine von ihnen ist Paula Yacoubian, eine frühere Mitarbeiterin von Saad Hariri und ehemalige Journalistin bei »Future TV«. Sie war bereits 2018 ins Parlament gewählt worden und verfügt wie kein anderer der neuen Abgeordneten über Parlamentserfahrung. Der »Rotary Club Libanon« gratulierte fünf seiner Mitglieder, die als Rotarier ins Parlament eingezogen seien. Im Süden konnte ein »Unabhängiger« für die Libanesische Kommunistische Partei über die Liste »Zusammen für Wandel« einen Parlamentssitz erringen.

Neue Möglichkeit für Konsens

Programmatisch seien die neuen Abgeordneten nicht eindeutig zuzuordnen, sagte Abed Al Halim Fadlallah vom Beratungszentrum für Studien und Dokumentation, das der libanesischen Hisbollah nahesteht. Es gebe die Möglichkeit, daß mit den neuen Abgeordneten ein Konsens über die zentralen Probleme des Landes erreicht werden könne. Eindeutig hätten bei den Wahlen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Bevölkerung im Mittelpunkt gestanden, sagte Fadlallah im Gespräch mit der Autorin in Beirut. Seit 2019 sei im Land diesbezüglich kein Konsens mehr erreicht worden.

Auch über die strategische Ausrichtung des Landes und seine Beziehungen zu anderen Staaten gebe es keine Übereinstimmung. Einige der neuen Abgeordneten stimmten mit dem Block von Hisbollah, Amal und der Freien Patriotischen Bewegung in innenpolitischen Fragen durchaus überein, hätten aber bei deren strategischer Ausrichtung für das Land eine völlig andere Position.

Bei anderen der neuen Abgeordneten sei es umgekehrt, sie stimmten mit der strategischen Ausrichtung der Hisbollah überein, unterschieden sich aber bei innenpolitischen Fragen. Ein erster Test werde die Wahl des Parlamentspräsidenten werden, so Fadlallah. Auch bei der Regierungsbildung und der Wahl des Präsidenten werde sich zeigen, ob mit den neuen Abgeordneten ein Konsens zu erreichen sein werde.

Dieser erste Test fand am vergangenen Dienstag statt. Mit 65 Stimmen – der erforderlichen Mehrheit der 128 Abgeordneten – wurde der langjährige Parlamentspräsident Nabi Berri in seinem Amt bestätigt. Berri erhielt die Stimmen der Abgeordneten von Hisbollah, Amal, nicht von allen Abgeordneten der Freien Patriotischen Bewegung, dafür aber von den Abgeordneten der Progressiven Sozialistischen Partei des Drusenführers Walid Dschumblat. Als Stellvertreter wurde Elias Bou Saab gewählt, Mitglied der Freien Patriotischen Bewegung des amtierenden Präsidenten Michel Aoun. Nun steht die Regierungsbildung und die Wahl des Präsidenten bevor.

Der Einfluß von außen

Die politische Machtverteilung im Libanon – vor allem die Besetzung des Präsidentenamtes – sei jenseits aller konfessionellen Vorgaben wesentlich vom Einfluß des Auslands abhängig, sagt Mohammad Ballout vom Zentrum für Studien der Arabischen Einheit (CAUS) im Gespräch mit der Autorin in Beirut. Libanon sei auf Vermittler angewiesen, um mit den ausländischen Kräften eine Lösung zu finden.

Nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1943 und dem Erstarken des arabischen Nationalismus in den 1950er Jahren sei der Einfluß des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdul Nasser im Libanon groß gewesen. Nach den ersten Unruhen 1958 wuchs der Einfluß der USA und Saudi Arabiens. Mit dem Bürgerkrieg 1975 nahm der Einfluß Syriens zu, das mit Saudi Arabien und den USA die Geschicke des Libanon aushandelte.

Mit der Besetzung des Libanon einschließlich Beiruts und Umgebung 1982 durch Israel, nahm der Einfluß des Iran zu. Die Befreiung des südlichen Libanon von der israelischen Armee durch die Hisbollah hatte deren Einfluß gestärkt. Heute verfüge der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, über großen politischen Einfluß, auch bei der Besetzung des Präsidentenamtes, sagt Mohammad Ballout. Das werde Nasrallah mit den verschiedenen Kräften im Libanon und mit Saudi Arabien und den USA einschließlich derer Gesandten in Botschaften der EU-Staaten aushandeln müssen. Anders, als es zumeist in westlichen Medien dargestellt werde, handele Hassan Nasrallah heute unabhängig vom Iran, der die Hisbollah zwar finanziell unterstützt, sich aber politisch nicht einmischt. Die Hisbollah strebe keine Vorherrschaft im Libanon an, sondern einen politischen Ausgleich und Konsens mit allen Lagern, betont Mohammad Ballout.

Hisbollah als Feindbild

Tatsächlich gibt es zahlreiche Begegnungen mit Botschaftsvertretern von EU-Staaten in Dakhiye, in Südbeirut, wo verschiedene Einrichtungen der Hisbollah angesiedelt sind. Selbst der französische Präsident Emmanuel Macron traf sich im August 2020 mit einem hochrangigen Vertreter der Hisbollah, in Anwesenheit von Journalisten. Als der Korrespondent des »Figaro« George Malbrunot über das Gespräch detailliert berichtete, wurde er von Macron in aller Öffentlichkeit scharf kritisiert. Der Artikel sei »unverantwortlich« gewesen, so Macron. Der »Fall« wurde inzwischen zu den Akten gelegt.

Vorschläge aus dem französischen Präsidentenpalast zur Beilegung der politischen Krise wurden damals von den USA gestoppt. Während der Franzose Macron die Hisbollah als eine führende politische Kraft im Libanon in Verhandlungen über die Lösung von wirtschaftlichen und politischen Krisen einbeziehen wollte, tut Washington alles dafür, genau das zu verhindern.

Der Intrigant

Architekt der Anti-Hisbollah-Rhetorik und Politik der USA-Administration war damals David Schenker, der von 2019 bis 2021 als Staatssekretär für den Nahen Osten im Außenministerium tätig war. Sein Zuständigkeitsbereich umfaßte 18 Staaten von Marokko bis zum Iran und den Jemen, er war Chefberater des damaligen Außenministers und vormaligen CIA-Direktors Mike Pompeo.

Seit dem Regierungswechsel in Washington 2021 arbeitet Schenker wieder im Washingtoner Institut für Studien des Nahen Ostens (WINEP), wo er das »Programm für Arabische Politik« leitet. Das Institut ist bekannt für seine große Nähe zu Israel und zum berüchtigten American Israel Public Affairs Comitee (AIPAC). Als eine der wichtigsten Einrichtungen der Israel-Lobby in den USA, gehört ein Auftritt bei der Mitgliederversammlung von AIPAC zum Pflichtprogramm eines jeden Präsidentschaftskandidaten. Zahlreiche hochrangige Mitarbeiter in Pentagon oder im Außenministerium pendeln im Laufe ihrer politischen Karriere zwischen dem Washington Institut und Regierungsstellen hin und her. So war David Schenker zwischen 2002 und 2006 im Kriegsministerium für den damaligen Ressortchef Donald Rumsfeld zuständig für die Levante – Syrien, Libanon, Jordanien, Besetzte Palästinensische Gebiete. Davor beaufsichtigte Schenker ein »Hilfsprogramm« der USAID für Ägypten und Jordanien. USAID ist die »Entwicklungshilfeagentur«, die dem USA-Außenministerium angegliedert ist.

David Schenker ist im Washington Institute politisch groß geworden und als Redner, Analyst und Autor für die Region des »Großen Mittleren Ostens« – von Marokko bis zum Iran und Jemen – viel gefragt. Dabei läßt er – als zuverlässiger Vertreter für israelische Regierungsinteressen in den USA – keine Gelegenheit aus, um vor der »Gefahr der Hisbollah« zu warnen.

Wenige Tage vor den Parlamentswahlen veranstalte das Washington Institut eine Veranstaltung unter dem Titel »Die Dynamik zwischen Hisbollah und Schiiten und die Wahlen im Libanon: Herausforderungen, Chancen und politische Implikationen«. David Schenker war einer der Redner und sprach offen über die zahlreichen Maßnahmen, mit denen das USA-Außenministerium sich in die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Libanon eingemischt hat mit dem Ziel, der Hisbollah zu schaden und sie und ihre Verbündeten politisch zu schwächen. Genutzt hätten der USA-Administration dabei die Proteste im Land, die mit der Massendemonstration rund um das Parlament in Beirut am 17. Oktober 2019 als »Revolution« bezeichnet werden.

David Schenker erläuterte, wie die USA im Rahmen der gegen Iran gerichteten »Kampagne des maximalen Drucks« die finanzielle Unterstützung aus Teheran für die Hisbollah blockiert haben. Washington habe finanzielle Einrichtungen der Hisbollah unter Sanktionen gestellt. Man habe gewartet, bis die Investorengesellschaft Moody’s die Kreditwürdigkeit des Libanon herabgestuft habe. »Am Tag darauf haben wir eins draufgesetzt und die Jammal Trust Bank sanktioniert, konnten aber nicht öffentlich dafür verantwortlich gemacht werden, wegen der vorherigen Herabstufung durch Moody’s. So haben wir die Kosten auch für die Verbündeten der Hisbollah erhöht. Wir haben einige der korruptesten Verbündeten der Hisbollah, wie … Gibran Bassil – den Schwiegersohn des libanesischen Präsidenten – auf die Sanktionsliste gesetzt«, erklärte Schenker. »Ich denke, diese Botschaft war eindeutig.«

»Zivilgesellschaft« gegen Hisbollah stärken

Um die schiitische Bevölkerung im Libanon von der Hisbollah zu trennen, habe man »schiitische Geschäftsleute aufgebaut«, erläuterte David Schenker. Während seiner Zeit als Staatssekretär im Außenministerium sei er zwei, drei Mal in den Libanon gereist und habe öffentliche Abendessen mit schiitischen Geschäftsleuten abgehalten, von denen man wußte, daß diese gegen die Hisbollah waren.

Washington habe in von Schiiten bewohnten Gebieten im Südlibanon wirtschaftliche Angebote gemacht, um den Menschen »aus ihrer Abhängigkeit von der Hisbollah« zu helfen. Washington habe vor allem die »schiitische Zivilgesellschaft unterstützt, die das autoritäre Auftreten der Hisbollah ablehnten«, sagte Schenker. Er selber habe »schiitische Journalisten getroffen, die über die Korruption und Unterdrückung der Hisbollah geschrieben« hatten.

Der Einfluß der Hisbollah im Libanon müsse »an allen Fronten zurückgedrängt werden«, so Schenker. Man müsse »diese Gruppe im Libanon verfolgen und Leute unterstützen, die bereit sind sich gegen sie aufzulehnen«. Indem man gegen den Iran wirtschaftlich oder anders vorgehe, erhöhe man den Druck auf die Hisbollah.

David Schenker wandte sich gegen die Veröffentlichung von Teilen seines Vortrages im libanesischen Nachrichtensender Al Mayadeen. Der hatte sich allerdings lediglich Schenkers Vortrag im Washington Institut angehört und darüber berichtet.