Der INF-Vertrag ist tot. Und nun?
Ende 2018 kündigte der Präsident der USA an, daß er nicht länger bereit sei, so zu tun als könne man ein totes Pferd tatsächlich reiten. Das Pferd war der vor über 30 Jahren zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossene Vertrag über das Verbot landgestützter Raketen kürzerer und mittlerer Reichweite – kurz INF-Vertrag. Der tatsächliche Grund für die USA, diesen Schritt zu gehen, ist der Umstand, daß es heute auf der Welt mehr solcher Raketen gibt als beim Abschluß des INF-Vertrages. Ganz zu schweigen von der Vielzahl luft- und seegestützter Raketen derselben Zweckbestimmung.
Bekannte Besitzer landgestützter ballistischer und Flügelraketen sind Nordkorea, Südkorea, China, Indien, Pakistan, Iran und Israel. Deren Raketen können zwar alle nicht die USA in Nordamerika erreichen, wohl aber können alle (fast) das gesamte Territorium Rußlands abdecken. Alle Besitzer von landgestützten
Mittelstreckenraketen liegen auf der eurasischen Kontinentalmasse. Die chinesischen Mittelstreckenraketen, die für die USA besonders wichtig sind, decken den gesamten Nord- und Zentral-Pazifik, den Indischen Ozean und Teile des Nahen Ostens ab. Dort befinden sich etliche große Stützpunkte der USA und die wichtigsten Flottenverbände der U.S. Navy. Gegen diese Ziele sind die modernen chinesischen Raketen mit manövrierenden Hyperschallgefechtsköpfen gerichtet. Vor allem die chinesischen Mittelstreckenraketen schränken die Möglichkeiten der USA massiv ein, ihre Flotten und die Marines zur Erzwingung politischer Ziele im asiatisch-pazifischen Raum einzusetzen.
Aus Sicht der USA ist es nachvollziehbar, daß sie sich nicht länger durch einen alten, bilateralen Vertrag mit Rußlands Vorgänger die Hände binden lassen wollen. China seinerseits ist nicht bereit, sein aufwendig aufgebautes Potential zur Blockierung des USA-Militärs mit einem Federstrich zunichte zu machen. China balanciert mit seinen Mittelstreckenraketen zudem auch andere, mit Kernwaffen ausgerüstete Länder wie Indien aus, mit dem es sogar offene Territorialstreitigkeiten hat.
Die USA haben den INF-Vertrag vor einem halben Jahr aufgekündigt, weil sich die Welt seit 1987 grundlegend verändert hat. Ihre Sicherheitsinteressen sind durch die vielen neuen Mittelstreckenraketen in Asien massiv betroffen. Die nukleare Logik mag einem nicht gefallen, sie ist aber, wie sie ist.
In der Politik wird allerdings auch immer wieder das alte Spiel des »schwarzen Peter« gespielt. Wie nicht anders zu erwarten, nutzen die USA ihren Vertragsausstieg auch gleich noch für eine Propagandaaktion gegen Rußland. Wie gehabt heißt es: Die Russen sind schuld.
Wider besseres Wissen und in schäbiger Manier
Dieses Spiel, das die gesamte Gefolgschaft der USA brav nachäfft, wird wider besseres Wissen und in schäbiger Manier geführt. Die USA wissen genau, daß die neue russische Flügelrakete, die als Grund für einen russischen »Vertragsbruch« herhalten muß, niemals so weit wie behauptet fliegen kann. Rußland hatte wiederholt angeboten, die ausgelaufenen Inspektionen des INF-Vertrages wieder zu beleben und die russischen Flügelraketen ebenso zu inspizieren wie die USA-Stützpunkte mit »Aegis Ashore«-Raketenstartern in Rumänien und Ostpolen. Die USA haben diese Angebote immer wieder abgelehnt, weil sie wußten, daß sie dann beim Lügen ertappt worden wären. Kein Fachmann glaubt die Märchen von der wundersamen Reichweitenvergrößerung russischer Raketen. Der Warp-Antrieb bleibt auch weiterhin ein Monopol Hollywoods.
Bei Inspektionen wäre aber auch medial breitgetreten worden, daß es die USA sind, die mit ihren Stützpunkten zur Flug- und Raketenabwehr »Aegis Ashore« den INF-Vertrag schon vor Jahren tatsächlich gebrochen haben. Die dortigen MK-41-Starter, ursprünglich auf Schiffen der U.S. Navy stationiert, können sowohl Flieger-Abwehr-Raketen als auch Langstrecken-Flügelraketen (»Tomahawk« und andere) verschießen. Letzteres macht die MK-41-Startkontainer flexibel und zu Offensivwaffen. Rußland hat von Anfang an gegen die Stationierung solcher Startcontainer an Land (»ashore«) in Rumänien und Polen protestiert.
NATO-»Raketenabwehr« verstößt gegen den INF-Vertrag
Moskau hatte auch immer erklärt, daß diese Anlagen zur angeblichen »Raketenabwehr« gegen den INF-Vertrag verstoßen. Dieser Vertrag verbietet nämlich als einziger Rüstungskontrollvertrag nicht nur die betreffenden Raketen, sondern auch deren Transport- und Starteinrichtungen und die gesamte sonstige Infrastruktur. Das war in den 1980er Jahren eine zentrale Forderung der USA in den INF-Verhandlungen. Der UdSSR sollte es unmöglich sein, nur die SS-23-Raketen auf ihren Fahrzeugen auszutauschen, und zugleich wurden auch alle Fahrzeuge für konventionelle SS-23 Raketen im Warschauer Vertrag schrottreif. Für sie gab es keine Ersatzteile mehr.
Mit ihren »Raketenabwehr«-Stellungen in Osteuropa haben die USA den INF-Vertrag schon vor zwei Jahren in seinem Kernpunkt gebrochen. Damit war er bereits de facto tot, als die USA-Regierung ihre Austrittnote in Moskau übergab. Rußland hatte bis dahin gegen die »Aegis-ashore«-Stützpunkte nur halblaut protestiert, um den INF-Vertrag noch irgendwie zu erhalten.
Wie schon so oft hoffte Moskau, daß ein Entgegenkommen durch die USA irgendwie honoriert würde. Und wie ebenso oft dachte die USA-Administration nicht daran und tat, was sie allein für richtig hält. Und da wird es schäbig. Man kann nicht erklären, sein Land wieder »groß« machen zu wollen und sich gleichzeitig so schäbig gegenüber seinem Vertragspartner im INF-Vertrag verhalten.
Und nun? Rußland hat in den letzten Monaten und aktuell wiederholt angeboten, daß sich die USA, die europäischen NATO-Staaten und Rußland wenigstens an die gegenwärtig bestehende Lage halten und nicht erneut USA-Mittelstreckenraketen in Westeuropa stationieren. In der Sprache der Diplomatie nennt man das seit Jahrhunderten »schlüssiges Verhalten«. Das bedeutet, alle Seiten halten sich tatsächlich an einseitige Erklärungen. Ein schriftlicher Vertrag ist nicht nötig. Es ist etwa so wie in einer Lebensgemeinschaft ohne Trauschein. Dann würde alles so bleiben, wie es ist. Vor allem könnten alle Beteiligten damit demonstrieren, daß sie erneut ein gegenseitiges Vertrauen aufbauen wollen. Geschieht dies nicht und fallen zumindest einige Westeuropäer in alte Handlungsmuster zurück, werden sie die Folgen tragen müssen. In Moskau sitzen eben nicht mehr die alten Herren des Politbüros.
Rußland wird sich nicht wie in alten Zeiten in ein ebenso umfassendes wie ruinöses und sinnloses Wettrüsten hineinziehen lassen. Seine militärische Sicherheit kann es preiswert mit wenigen und großen Kernladungen gewährleisten. Sollte es je soweit kommen, geht es nicht um Sieg oder Niederlage, sondern um den gemeinsamen Untergang. In Moskau will man dafür nicht auch noch viel Geld ausgeben.
Jetzt sind durchdachte politische Schritte gefragt und auf keinen Fall irgendein Säbelrasseln. So seltsam es klingen mag – wer nach dem Tod von INF am 2. August 2019 erst einmal nichts tut, ist gut beraten. Nur so kann eine neue Politik des Ausgleichs und der gegenseitigen Sicherheit aufgebaut werden. Ob das gelingt, wird sich zeigen.
Lutz Vogt
Der Autor war Leiter des Sektors Abrüstung im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR
Das Kommandozentrum des Aegis Ashore Missile Defense System (AAMDS) bei Deveselu, 180 km südlich der rumänischen Hauptstadt Bukarest, nach seiner offiziellen Inbetriebnahme am 12. Mai 2016. Der Bau der Anlage begann im Oktober 2013. (Foto: EPA/KAY NIETFELD)