Leitartikel05. März 2019

»Soziale Ungerechtigkeit tötet«

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Während Wochen war ein junger Handwerker in einem Neubau mit dem Posieren von Türen und Fenstern beschäftigt. Weil die Arbeiten am letzten Wochenende laut Vertrag abgeschlossen sein mussten, ging es die ganze letzte Woche nicht ohne Überstunden. Und zwar täglich. Ganze 54 Stunden war er von Montag bis Freitagabend im Einsatz. Dies, trotz zunehmender Erschöpfung. Ausruhen konnte er sich allerdings erst am Sonntag, da er gezwungen wurde, auch am Samstagmorgen Präsenz zu zeigen. Schließlich mussten alle Türen und Fenster einer letzten Kontrolle unterzogen werden.

Den Mut, um gegen die ihm aufgezwungenen Arbeitszeiten zu protestieren, hatte er nicht. Er wollte weder seinen Chef brüskieren, noch seinen Arbeitsplatz aufs Spiel setzen. So wie es heute übrigens viele andere Erwerbstätige ebenfalls immer häufiger tun, entschied er sich dazu, lieber in den sauren Apfel zu beißen als später eventuell bei der ADEM als Arbeitssuchender anstehen zu müssen. Auch dann, wenn ihm am Monatsende nicht alle Überstunden als solche verrechnet werden sollten. Was in den letzten Jahren übrigens immer häufiger der Fall ist.

Doch ob es am Monatsende nach der geleisteten Mehrarbeit nun mehr Lohn gibt oder nicht, ändert nichts daran, dass die Arbeitsbedingungen, die ihm aufgezwungen wurden, seiner Gesundheit auf Dauer schaden werden.

So sehen es auch die OECD und vor allem die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die bereits vor Jahren In einem ihrer Jahresberichte zur Situation in der Arbeitswelt festhielt, dass in punkto Gesundheit sichere und gut bezahlte Arbeitsplätze die Risikofaktoren spürbar senken würden.

Interessant im damaligen Bericht auch die Analyse, dass im Vergleich zu Lohnabhängigen mit unbefristeten Verträgen die Sterblichkeit bei Beschäftigten mit Zeitverträgen deutlich höher liege. Nicht uninteressanter auch die Bemerkung, dass sozial Bedürftige deutlich jünger sterben als Bessersituierte. So sei beispielsweise in einem Armenviertel Glasgows die Lebenserwartung eines Neugeborenen um 28 Jahre niedriger als die eines Säuglings, der in einem Reichenviertel der schottischen Hauptstadt zu Welt komme.

Aussagen wie »in den Gesundheitssektor muss massiv investiert werden«, »das Recht auf Wasser und Pflege darf nicht den Gesetzen des Marktes unterliegen« oder »soziale Ungerechtigkeit tötet« von Organisationen wie der WHO oder der OECD in einer solchen Offenheit zu hören sind nicht üblich, ja schon fast als revolutionär zu bezeichnen.

Sicherlich die Ursache, weshalb besagtes Dokument auf direktem Wege in die Schubladen der zuständigen Minister verschwand. Schließlich gehören gewisse Schlussfolgerungen wie beispielsweise »le plein-emploi, l’équité en matière d’emploi et des conditions de travail décentes doivent être des objectifs communs des institutions internationales et se situer au coeur des politiques et des stratégies de développement nationales, les travailleurs devant être mieux représentés lors de l’élaboration des politiques, de la législation et des programmes portant sur l’emploi et le travail« nicht in die breite Öffentlichkeit.

Zu leicht hätten solche Behauptungen sowohl damals wie heute den einen oder anderen auf dumme Gedanken beringen und dazu verleiten können, das kapitalistische System in Frage zu stellen.

gilbert simonelli