Von Syrien bis zur Ukraine (1. Teil)
Dieselben Regeln der Kriegspropaganda
Bei der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine werden in westlichen Medien altbekannte Regeln der Kriegspropaganda aus dem Syrienkrieg angewendet. Die gegnerische Seite (Rußland) sei verantwortlich, der russische Präsident wird dämonisiert. Man sei »nicht Kriegspartei«, die gelieferten Waffen dienten nur der Selbstverteidigung der Angegriffenen. Diese kämpften heldenhaft während die gegnerische Armee angeblich verbotene Waffen einsetzt und Grausamkeiten verübt. Unbelegte Behauptungen reichen, um den Gegner (Rußland, Putin) als Schuldigen anzuprangern.
Einige Titelzeilen aus deutschen Zeitungen:
»Im Donbas entfesselt der ‚Schlächter von Aleppo‘ seine brutale Strategie«. »Die Welt«, 9. Mai 2022.
»Ukraine-Krieg: Grosny, Aleppo, Butscha: Immer die gleichen Vorwürfe an die russische Kriegsführung«. »Stern«, 5 April 2022.
»Von Aleppo nach Kiew: Das ist der Putin den wir kennen«. »Tagesspiegel«, 9 März 2022.
»Von Aleppo nach Mariupol«. »Die Zeit«, 4. März 2022. Und weiter: »Wir werden wohl bald Aleppo-ähnliche Bilder aus Mariupol sehen.«
Die Botschaft lautet, daß die russische Armee blutrünstig, brutal und menschenverachtend vorgehe und mit ihrer »barbarischen Kriegsführung« – wie in Aleppo – keinen Stein auf dem anderen lasse. Frauen würden in Massen vergewaltigt, Delphine im Schwarzen Meer siechten dahin, Kunst- und Kulturgüter würden zerstört. Als »Schlächter von Aleppo« bezeichnen deutsche Medien heute den russischen Präsidenten Wladimir Putin, wie sie zuvor den syrischen Präsidenten Baschar al Assad den »Schlächter von Syrien« nannten, Muammar al Ghadafi den »Schlächter von Libyen« und Saddam Hussein den »Schlächter von Bagdad«.
Die Regeln der Propaganda
»Die Regeln der Kriegs-Propaganda« wurden 1928, vor knapp 100 Jahren, von dem britischen Baron und Politiker Arthur Ponsonby (1871-1946) in dem Buch »Lüge in Kriegszeiten« analysiert.
Ponsonby, der seine Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg verarbeitete, wird das Zitat zugeschrieben: »Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit«. Heute ist bekannt, daß die Wahrheit schon vor dem Beginn eines Krieges erlegt wird. Politische Unwahrheiten, Lügen und Täuschungen bilden den Hintergrund, vor dem Kriege entstehen. Transportiert werden sie von Denkfabriken, Politik und Medien mit Hilfe einer globalisierten westlich dominierten Kommunikationsstruktur.
Meist sind die Lügen bekannt, weil es vor einem Krieg immer mindestens zwei Perspektiven gibt, die eine angespannte politische Situation beschreiben. Bis zum Irak-Krieg 2003 wurden die verschiedenen Perspektiven zumeist von Journalisten und Korrespondenten noch berichtet, wobei schon damals eine deutliche Differenz zwischen Berichten der westlichen Medien (EU, GB, USA) und arabischen, lateinamerikanischen oder asiatischen Medien (»Asia Times«, »Al Jazeera«, »Prensa Latina«) zu beobachten war.
Lüge in Kriegszeiten
Der Krieg der USA, Britanniens und einer »Koalition der Willigen« (auch 4.000 Soldaten aus der Ukraine waren dabei) gegen den Irak 2003 wurde u.a. mit der vom britischen Geheimdienst MI6 verbreiteten Lüge vorbereitet, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen, die innerhalb von 45 Minuten einsatzbereit seien.
Der damalige USA-Außenminister Colin Powell präsentierte im UNO-Sicherheitsrat am 5. Februar 2003 angebliche Beweise dafür, daß der Irak fahrbare Chemiewaffenlabore im Einsatz habe.
Nichts wurde gefunden. Der Irak, geschwächt durch mehr als zehn Jahre Sanktionen, wurde politisch, wirtschaftlich und sozial zerstört. 2016 wurde in London der Bericht der Chilcot Untersuchungskommission veröffentlicht, in dem die meisten Lügen der britischen Politik aufgedeckt wurden.
Dem Irak half das nicht. Niemand wurde rehabilitiert, niemand entschädigt. Weder die USA noch Britannien entschuldigten sich bei dem Land, das sie völlig destabilisiert hatten. Stattdessen wurden und werden weitere Kriege und Krisen mit Unwahrheiten, Lügen und Täuschungen vorbereitet und begründet. Perspektiven, Informationen und Berichte von Medien, die nicht das weltumspannende westliche »Narrativ« bedienen, sondern es hinterfragen, Hintergründe recherchieren und debattieren und andere Perspektiven einbringen, werden diffamiert, verfolgt und verboten. Die Regeln der Kriegspropaganda funktionieren immer wieder aufs Neue.
Warum Aleppo?
Zur Vorgeschichte gehört, daß in den Ländern der »westlichen demokratischen werteordnung« über den Krieg in Syrien, über Ursachen und Hintergründe, über das Geschehen in Aleppo und über die Akteure einseitig berichtet wurde. Die Darstellung unterlag übergeordneten Vereinbarungen, die von den USA, Britannien, Frankreich, einigen ausgewählten arabischen Golfstaaten, Türkei, Jordanien und Israel – das nie genannt wird – und den so genannten »Freunden Syriens« bestimmt wurden. Denkfabriken, Medien und Hilfsorganisationen wurden in dieses »Narrativ« eingebunden. Die UNO und ihre Organisationen agierten unter enormem Druck der westlich geführten »Freunde Syriens«. Selbst Friedens- und fortschrittliche Organisationen in den Ländern des Westens, bürgerliche Parteien, Gewerkschaften und Kirchen und auch die meisten Journalisten hinterfragten die Darstellung kaum.
Das führte dazu, daß die Interessen der Regierungen der Länder der EU und der NATO gegenüber der breiten Öffentlichkeit nicht offengelegt wurden. Diese Regierungen waren – und sind – eingebunden in die Interessen von EU und NATO, die wiederum von den USA bestimmt wurden und werden. Die damals wichtigsten Verbündeten in der Region waren die arabischen Golfstaaten, Israel und die Türkei.
»Der Westen, Golfstaaten und die Türkei« wollten in Syrien einen gewaltsamen »Regierungswechsel« durchsetzen, stellte der USA-Militärgeheimdienst DIA im August 2012 in einem internen Bericht fest. Zu dem Zeitpunkt wurden bereits Waffen und Kämpfer aus Libyen über das Mittelmeer in die Türkei transportiert und dort – unter Aufsicht der CIA – an bewaffnete aufständische Gruppen im Norden Syriens verteilt. Je mehr und je besser die Waffen, desto mehr Kämpfer meldeten sich. Die DIA stellte dazu fest: »A. Im Land nehmen die Ereignisse eine deutliche konfessionelle Richtung. B. Die Salafisten, die Muslim Bruderschaft und Al Qaida im Irak sind die führenden Kräfte, die den Aufstand in Syrien vorantreiben. C. Der Westen, die Golfstaaten und die Türkei unterstützen die Opposition, während Rußland, China und der Iran das Regime unterstützen.«
Aleppo – Die Wirtschaftsmetropole
Aleppo kam aufgrund seiner strategischen Lage – der Nähe zur türkischen Grenze bei Azaz – in den Umsturzplänen eine besondere Rolle zu.
Die Stadt galt als Wirtschaftshauptstadt Syriens, hier wurde der Reichtum des Landes erwirtschaftet, die Basis seiner Unabhängigkeit. Gelegen im ehemaligen »Fruchtbaren Halbmond« und an wichtigen Handelsrouten, die Ost mit West (Seidenstraße) und Nord mit Süd (Gewürzstraße) verbanden, ist Aleppo seit dem 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung einer der berühmtesten Handelsplätze in der Region.
Im 12. Jahrhundert wurde Aleppo von den Kreuzrittern belagert, im 13. Jahrhundert wurde die Stadt von den Mongolen zerstört und im 15. Jahrhundert von den Osmanen erobert. Mit dem Fall des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg (1914-1918) wurden die ehemaligen arabischen Provinzen des gefallenen Reiches mit dem britisch-französischen Sykes-Picot-Plan gevierteilt. Syrien und die Stadt Aleppo fielen unter französisches Mandat. Aleppo wurde von seinem arabischen und asiatischen Hinterland abgeschnitten, es mußten neue Handelswege gefunden werden. Erst 1946 zogen sich die Franzosen zurück, Syrien erlangte die Unabhängigkeit und wurde Mitglied der UNO.
Nach der gewaltsamen Gründung des Staates Israel und der Vertreibung der Palästinenser (1948) folgten Kriege, die Besetzung der Golanhöhen (1967), die traditionellen Handelswege Syriens zum Mittelmeer (Haifa, Beirut und Tripoli) waren ganz oder teilweise versperrt. Doch trotz der schwierigen politischen Entwicklung Syriens und der Region, war Aleppo vor dem Krieg 2011 wieder die wichtigste Wirtschaftsmetropole in der Region. Die Weltbank bezeichnete Syrien damals als die am schnellsten wachsende Wirtschaftsmacht unter den arabischen Staaten und prognostizierte, daß das Land bald auf Rang 5 der arabischen Ökonomien steigen werde.
Gelungen war das durch den Plan, aus Syrien, der Türkei, dem Libanon, Jordanien und dem Irak eine gemeinsame Wirtschaftszone zu machen. Gemeinsame Infrastrukturprojekte waren geplant, der regionale Handel boomte. Zwischen Syrien und der Türkei wurden neue Grenzübergänge geöffnet, die Visumspflicht wurde aufgehoben. Die Händler von Aleppo hatten Beziehungen in alle Welt, neue Industriebezirke waren in und um die Stadt entstanden. In der Industriestadt Scheich Najjar – etwa zehn Kilometer vom Zentrum der Stadt entfernt – hatten sich mehr als 1.900 Firmen angesiedelt, die Tausenden Menschen Arbeit gaben. Aleppo war die wirtschaftliche Hauptstadt Syriens.
Während in anderen Landesteilen die Konflikte 2011/ 2012 eskalierten, blieb es in Aleppo ruhig. Die religiöse und ethnische Vielfalt der Stadt, der ausgeprägte Geschäftssinn, die Ablehnung einer »Revolution« spiegelten sich in der politischen Zurückhaltung der Aleppiner.
Doch in den nordöstlichen Randgebieten der Stadt, die durch Landflucht und Bevölkerungswachstum unübersichtlich geworden waren, faßten bewaffnete regierungsfeindliche Kämpfer – die aus der Türkei gekommen waren – Fuß und sagten der säkularen Gesellschaft im Zentrum von Aleppo den Kampf an. Im August 2012 erreichten sie den Ostteil der Altstadt im Herzen von Aleppo. Die Bewohner der alten Viertel flohen.
Ein Augenzeuge ist der Fotograf und Filmemacher Issa Toumeh, der im Viertel Al Jdeideh lebt. Er beobachtete und filmte den Beginn des Krieges von seinem Fenster neun Tage lang. In seinem Kurzfilm »Neun Tage – Von meinem Fenster in Aleppo« zeigt er, wie Bewaffnete in der Straße vor seinem Haus Position beziehen.
Aleppo – Die Zerstörung
Geschäftsleute, die sich den Kämpfern entgegenstellten, um ihre Geschäfte in der Altstadt zu schützen, wurden bedroht und zogen sich vor der Waffengewalt zurück. Andere versuchten, die Kämpfer mit Geld zu besänftigen und dazu zu bringen, ihre Fabriken, Lager oder Häuser nicht anzugreifen. Die Kämpfer nahmen das Geld und griffen weiter an. Sie plünderten Fabriken und die Fuhrparks von Industrieunternehmen, dem syrischen Roten Halbmond und von dem Internationalen Zentrum für Agrarforschung in Trockengebieten (International Center for Agricultural Research in the Dry Areas, ICARDA).
Die Industriestadt Sheikh Najjar und nahezu alle Industriezentren in den Randbezirken von Aleppo wurden im September, Oktober 2012 gestürmt, geplündert und besetzt oder zerstört. Aus den Fabriken in Sheikh Najjar wurden Maschinen, Computer, Fuhrparks gestohlen und vor aller Augen über die nahegelegene Grenze in die Türkei abtransportiert.
Im Dezember 2012 folgte die Belagerung des Al Kindi Hospitals, der größten und modernsten Klinik für Krebserkrankungen in der Region mit 700 Betten. Auf einem Hügel gelegen, war es für den militärischen Sturm auf Aleppo ein wichtiger Stützpunkt, den die Kämpfer einnehmen wollten. Patienten und Personal konnten evakuiert werden, die syrische Armee versuchte die Klinik zu verteidigen. Im Dezember 2013 lenkten zwei Selbstmordattentäter je einen Lastwagen, beladen mit jeweils 40 Tonnen Sprengstoff, in den Eingangsbereich der Klinik und sprengten sich in die Luft. Das Gebäude brach in einer riesigen Staubwolke zusammen.
Aleppo – Das syrische Benghasi
Unterstützt wurden die Kämpfer bei ihrem Sturm auf Aleppo von den »Freunden Syriens«. Der Plan war, aus Aleppo ein »syrisches Benghasi« zu machen. Das Vorbild war Libyen, wo die Hafenstadt Benghasi die Basis für die bewaffnete Opposition geworden war. Eine Flugverbotszone sollte angeblich Luftangriffe der libyschen Armee verhindern. Tatsächlich schützte sie die Anlieferung von Waffen, die mit Schiffen zu den Kämpfern in Benghasi gebracht wurden.
In Syrien sollte Aleppo die Basis für die syrische bewaffnete Opposition werden. Eine Exilregierung sollte etabliert werden. Im Umland von Aleppo sollten »Schutzzonen« errichtet werden, in denen die Kämpfer sich sammeln und zu einer »Freien Syrischen Armee« ausgebildet werden sollten. Dann sollten sie in Richtung Damaskus marschieren, das vom Süden (Deraa, Yarmouk), vom Westen (Zabadani, Maraya) und vom Osten (Deir Ez-Zor, Palmyra, Ghouta, Douma) umzingelt werden sollte. Ziel war der Sturz der Regierung – »Regime Change«.
Aleppo eignete sich als Basis für den Plan, weil aus der nahegelegenen Türkei Kämpfer und Waffen leicht über die Grenze gebracht werden konnten. Die Waffen waren seit 2011 aus Katar und Saudi-Arabien auf dem Luftweg nach Amman und Ankara und von dort jeweils zur syrischen Grenze transportiert worden, wie der damalige Ministerpräsident Katars, Scheich Hamad bin Jassim bin Jabar al Thani, in einem Interview mit dem Katarischen Fernsehen 2017 erklärte. Das Vorgehen sei mit den USA und der Türkei abgesprochen gewesen. Für die militärische Koordination der Angriffe in Syrien habe es zwei international besetzte »Operationsräume« gegeben, einen in Jordanien und einen in der Türkei.
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