Die Topografie verändern: Israels Krieg gegen die arabischen Nachbarn
Neue Offensive gegen die Palästinenser im Jordantal
Während die israelischen Luftstreitkräfte am Jahrestag der sogenannten Waffenruhe weiter Dörfer im Süden des Libanon bombardiert haben (Zeitung vom 27.11.2025), während israelische Truppen Manöver auf syrisches Territorium in die Provinz Qunaitra ausgeweitet haben, während Israel weiter die umfassende Lieferung von Hilfsgütern in den palästinensischen Gazastreifen blockiert und dort Menschen tötet, sind israelische Truppen in einer breiten »Antiterroroperation« in den Norden des palästinensischen Westjordanlandes einmarschiert.
Es geht nicht um Sicherheit, sondern um Geographie
Mit einer neuen Offensive im Norden des besetzten Westjordanlandes sind israelische Truppen seit Mittwoch in die Stadt Tubas und umliegende Orte in der gleichnamigen Provinz einmarschiert. Die israelische Regierung spricht von einer »breitgefächerten Antiterroroperation«, im Einsatz sind die israelische Armee, Polizei und Sicherheitskräfte des Inlandsgeheimdienstes. Begründet wird der Vormarsch mit »Geheimdienstinformationen«, wonach es im nördlichen Westjordanland Versuche gebe, »Terrorstützpunkte« zu errichten. In der Stadt Qabatiya, südlich von Dschenin, wurde ein 20-jähriger Mann von israelischen Soldaten erschossen.
Die israelischen Truppen drangen in die Stadt Tubas ein, die unweit des Jordanflusses liegt. Sie stürmten über Plätze und durch Straßen und begannen Haus um Haus zu durchsuchen. Mindestens 30 Familien wurden aus ihren Häusern verjagt. Höhergelegene mehrstöckige Häuser wurden von den israelischen Truppen zur Kontrolle des Ortes besetzt. Kampfhelikopter vom Typ »Apache« überwachten den Einsatz von Bulldozern, die die Zugänge zur Stadt mit Erdwällen absperrten. Nach Angaben von Anwohnern feuerten die Hubschrauber während der Operation wiederholt in Richtung nahegelegener Wohngebiete und in die Felder, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Fünf Orte um Tubas sind von den Militäraktionen betroffen, darunter auch Tammun und Akkaba. Im gesamten von Israel jetzt abgeriegelten Gebiet leben rund 50.000 Menschen. Sämtliche Zugänge zum südlich gelegenen Westjordanland hat Israel blockiert. Zudem wurde eine Ausgangssperre verhängt.
Tubas liegt im nordöstlichen Westjordanland, nahe der Grenze zu Jordanien im Jordantal. Hier befindet sich eines der großen Wasserreservoire westlich des Jordans, ein Gebiet das sich Israel schon seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 aneignen will. Der damals vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Jigal Allon vorgelegte »Allon-Plan« zur Übernahme wurde von Jordanien verhindert, daß die Kontrolle über die Region hatte. Mit der unübersichtlichen Kriegssituation rund um Israel und den anhaltenden Vertreibungen von Palästinensern innerhalb des besetzten Westjordanlandes setzt die israelische Regierung – die bereits eine Annektion des Westjordanlandes angekündigt hat – offenbar darauf, das Gebiet in einem Handstreich von Palästinensern zu entleeren und zu übernehmen. Darauf wies Ahmed Asaad, der Gouverneur von Tubas, hin, der gegenüber Journalisten die israelische Behauptung, sie würden Terroristen jagen, zurückwies. Es gehe bei der Militäroperation »nicht um Sicherheit, sondern um Geographie«, so Asaad. »Tubas liegt in unmittelbarer Nähe zum Jordantal, Israel will hier neue Realitäten schaffen«, sagte er unter Verweis auf den »Allon-Plan«.
Israel unterwerfe die Menschen in dem Gebiet einer kollektiven Bestrafung, so Asaad weiter. Schon zuvor hätten sie sich aufgrund der vielen Kontrollpunkte nicht frei bewegen können, nun habe Israel die Repression auf ihre eigenen Ortschaften ausgeweitet. Wegen der von Israel verhängten Ausgangssperre hätten die lokalen Behörden Schulen und öffentliche Einrichtungen vorübergehend geschlossen, Notfallkomitees versuchten, die Bevölkerung zu unterstützen.
Während der Razzien – die am Freitag den dritten Tag in Folge anhielten – wurden nach ersten Angaben des Palästinensischen Gefangenen Clubs 162 Personen verhaftet. Seit der Nacht zu Mittwoch hätten die israelischen Streitkräfte Häuser umstellt und durchsucht, die Festgenommenen seien in kurzfristig errichtete Befragungszentren abtransportiert worden. Kamal Bani Odeh, der Präsident des Gefangenen Clubs (Tubas) sagte, 50 Personen seien später – mit gefesselten Händen – wieder freigelassen worden. Sie hätten von Schlägen und Mißhandlungen berichtet. Unter den bekannten 119 Gefangenen seien auch eine ehemalige Gefangene und ihre Mutter.
Schlimmste Vertreibung seit Jahrzehnten
Allein in diesem Jahr haben die israelischen Streitkräfte bereits fast 7.500 Razzien im besetzten Westjordanland durchgeführt. Mehr als 1.000 Palästinenser wurden dort seit Oktober 2023 von israelischen »Sicherheitskräften« getötet. »Das besetzte Westjordanland durchlebt seine schlimmste Vertreibung seit Jahrzehnten«, heißt es in einem Bericht des UNO-Büros für humanitäre Angelegenheiten (OCHA). Wohnhäuser, Weiden, Agrarland seien durch militärische Angriffe der israelischen Armee und durch die Gewalt der israelischen Siedler zerstört und verwüstet worden.
Seit Jahresbeginn hält die Vertreibung von Palästinensern aus dem besetzten nördlichen Westjordanland an, berichtete auch das Hilfswerk der UNO für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Die militärische Massenvertreibung von etwa 32.000 Palästinensern allein aus den drei großen Flüchtlingslagern Dschenin, Tulkarem und Nur Shams wird in einem 105-Seiten starken Bericht der USA-Organisation Human Rights Watch als »Kriegsverbrechen« und als »Verbrechen gegen die Menschheit« bezeichnet. Der Angriff auf die Lager begann Ende Januar, als in Gaza eine Waffenruhe begann. Die Vertreibung begann überfallartig, die Menschen waren dabei auch über Lautsprecher von Drohnen aus aufgefordert worden, ihre Häuser zu verlassen. Niemand durfte zurückkehren. Westliche Medien berichteten kaum über die israelischen Angriffe im besetzten Westjordanland, weil sie sich und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Gazastreifen konzentrierten.
Die israelische Armee ordnete inzwischen an, am Freitag im Lager Dschenin zwölf Gebäude dem Erdboden gleichzumachen und weitere elf Häuser abzureißen. Darauf wies Roland Friedrich, UNRWA-Beauftragter für das besetzte Westjordanland, in einem Interview mit dem katarischen Nachrichtensender Al Jazeera hin. Die monatelangen Invasionen und Razzien hätten sämtliche Bewohner der drei großen Flüchtlingslager vertrieben. Von März bis Juni seien fast 200 Gebäude zerstört worden, 20 Gebäude seien schon im Februar gesprengt worden. »Die Vertreibung und Zerstörung der Lager ist Teil eines israelischen Plans, die Topographie umzugestalten«, so Friedrich.

