Ausland

Schwierige wirtschaftliche Situation in Belarus

Russische Führung versucht, Präsident Lukaschenko zu erpressen

Bis vor kurzem galt Belarus als das in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht stabilste Land unter den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die ökonomischen Daten belegen dies. So ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2010 im Vergleich zum Vorjahr um 7,6 Prozent gewachsen, die Industrieproduktion um 11,3 Prozent, die Landwirtschaft um zwei Prozent, der Import um 22 Prozent und der Export um 18,4 Prozent. Die Inflationsrate betrug allerdings 9,9 Prozent, der nominelle Durchschnittslohn ist um 24 Prozent gestiegen (Angaben nach »Germany Trade & Invest« , Stand Mai 2011). Der insgesamt positive Trend hat sich offensichtlich auch in den ersten Monaten dieses Jahres fortgesetzt. So hebt das Statistikkomitee der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) hervor, daß Belarus im ersten Quartal mit 11,8 Prozent das stärkste Wachstum der Industrieproduktion aller GUS-Staaten verzeichnen konnte.

Inflation, Devisenmangel und schwacher Rubel

Große Probleme, die sich zunehmend negativ auf die gesamte Ökonomie des Landes auswirken und auch das System der sozialen Sicherheit gefährden könnten, bereiten dem Land allerdings Inflation, Devisenmangel und die Schwäche des belarussischen Rubels. Die Inflationsrate ist im ersten Quartal auf 12,5 Prozent gestiegen. Den Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge haben die belarussischen Gold- und Devisenreserven in den letzten sechs Monaten (Oktober 2010 bis April 2011) um zwei Milliarden US-Dollar abgenommen und betragen nun nur noch 3,7 Milliarden US-Dollar. Der Druck auf die Landeswährung hat derart zugenommen, daß sich die Nationalbank am 23. Mai gezwungen sah, den offiziellen Kurs des belarussischen Rubels gegenüber einem Währungskorb aus Euro, US-Dollar und russischem Rubel massiv abzuwerten. Im Vergleich zum Vortag betrug der Schnitt 54,4 Prozent und gegenüber dem Jahresende sogar 71,6 Prozent.

Das ist die stärkste Abwertung innerhalb der letzten zehn Jahre. Selbst auf dem Höhepunkt der Krise Anfang 2009 verlor die Landeswährung nur 20 Prozent in einem einmaligen Abwertungsschritt. Zudem soll mit Hilfe von Einfuhrbeschränkungen für Gebrauchswaren das enorme Handelsdefizit abgebaut werden.

Als Folge dieser Maßnahmen werden weitere massive Preissteigerungen und eine Senkung des Lebensstandards der Bevölkerung erwartet. Von den beträchtlichen nominellen Lohnerhöhungen im Vorfeld der Präsidentenwahlen dürfte real nicht viel übrig bleiben. Gefahren für die soziale Stabilität könnten sich auch aus einer Zunahme der Arbeitslosigkeit ergeben. Für das vergangene Jahr wurde die offizielle Arbeitslosenrate zwar mit nur 0,7 Prozent angegeben. Inoffiziell soll sie bereits wesentlich höher gelegen haben. In einem Beitrag der »Belarus-Analysen« von Ende Mai 2011 ist nun die Rede davon, das belarussische Unternehmen 600.000 Beschäftigte in Zwangsurlaub geschickt hätten. Das entspräche etwa 13 Prozent der Beschäftigten.

Das staatliche Eigentum an den wichtigsten Industriebetrieben und das hohe Maß an sozialer Sicherheit und Gleichheit bilden aber die Basis für die politische Stabilität in Belarus. Das bestätigt auch Alexander Rahr, der Leiter des Berthold-Beitz-Zentrums der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, in einem Beitrag in den »Belarus-Analysen« wenn er feststellt : »Die Belarussen haben sich an den sozialistischen Wohlfahrtsstaat gewöhnt, auch daran, daß der Staat die notwendige Stabilität und Ordnung im Land garantiert. Heute gibt es keine reichen und keine armen Bevölkerungsgruppen in Belarus, so gesehen ähnelt das Land noch der alten Sowjetunion.« 

Ob Präsident Alexander Lukaschenko Ende 2010 von fast 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler in seinem Amt bestätigt wurde, oder es einige Prozentpunkte weniger gewesen sein mögen, können wir nicht nachprüfen. Tatsache ist allerdings, daß die große Masse der Bevölkerung die soziale Sicherheit in ihrem Land zu schätzen weiß und darum hinter ihrem Präsidenten steht. Und so kommt Alexander Rahr denn auch zu dem Schluß : »Ein Nachfolger für Lukaschenko ist heute nicht in Sicht. Aus der zersplitterten und von westlichen Hilfen abhängigen Opposition der Demokraten wird ein alternativer Politiker zu Lukaschenko wohl kaum hervorkommen. Eher muß damit gerechnet werden, daß eine politische Gegenfigur zu Lukaschenko dem System selbst entspringt.« Auch das könnte allerdings Gefahren für die politische Stabilität im Land heraufbeschwören, wenn die Ablösung des Amtsinhabers in Konfrontation und nicht im Konsens erfolgen würde.

Gründe für die ökonomischen Probleme

Die ökonomischen Probleme in Belarus hängen mit den Schwierigkeiten zusammen, auf die jedes kleine exportabhängige Land unter den Bedingungen der imperialistischen Globalisierung und der Macht der internationalen Finanzspekulanten stößt. Davon zeugen unter anderem die Entwicklungen in den von der gegenwärtigen Krise im Euroraum besonders schwer betroffenen Staaten, darunter sogar solche mit stärkeren Volkswirtschaften als Belarus. Hinzu kommt für Belarus das fast völlige Fehlen eigener Energieressourcen und die Tatsache, daß die Länder mit den wichtigsten Märkten für Belarus, Rußland und die EU-Staaten, eine Politik der mehr oder weniger offenen Feindschaft gegen das Land betreiben.

Für die EU und ihre Mitgliedsländer liegt dies auf der Hand. Sie erklärten Lukaschenko zum »letzten Diktator Europas« und machen keinen Hehl daraus, daß ihr Ziel ein Regimewechsel, die Ablösung des jetzigen Präsidenten durch eine auf den Westen orientierte Opposition, ist. Zu diesem Zweck wird die Opposition von EU-Staaten finanziert, können von dort regimefeindliche Sender operieren, wird versucht, die Stabilität des Landes durch allerlei Sanktionen und ökonomische Hindernisse zu untergraben.

Nicht weniger destruktiv ist die Politik der jetzigen russischen Führung, wenn auch aus einer anderen Motivation heraus. Moskau kann es nicht um einen prowestlichen Regimewechsel in Minsk gehen. Schließlich ist Belarus der engste militärische Verbündete, der als territoriales Vorfeld gegenüber der NATO von herausragender Bedeutung für die nationale Sicherheit Rußlands ist. Dem Kreml geht es vor allem um zwei Ziele, um stärkeren politischen Einfluß auf das Land und darum, die Filetstücke der belarussischen Wirtschaft, die noch in Staatsbesitz befindlichen großen Industriebetriebe bzw. die staatlichen Aktienanteile an diesen Unternehmen sowie die belarussischen Öl- und Gastransportnetze gänzlich unter die Kontrolle der russischen Oligarchen bzw. der russischen staatskapitalistischen Unternehmen zu bringen.

So hat der russische Finanzminister Alexej Kudrin kürzlich bekanntgegeben, daß Belarus als Bedingung für die Auszahlung des dringend benötigten Kredits der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) in Höhe von drei Milliarden US-Dollar seine staatlichen Aktienpakete im Wert von 7,5 Milliarden US-Dollar privatisieren müsse. Die Liste der zum Verkauf stehenden Objekte habe Minsk innerhalb von drei Monaten zusammenzustellen. Die Antwort Lukaschenkos kam postwendend. Er erklärte : »Einige ausländische Politiker haben sich in eine Schlange gestellt, und zu schreien begonnen, daß Lukaschenko morgen liquide staatliche Anteile zu verkaufen beginnt. Und sogar eine Summe von 7,5 Milliarden US-Dollar haben sie genannt. Ich werde kein einziges Paket zu einem solchen Preis verkaufen.« Dabei fällt auf, daß hier nicht der Verkauf generell abgelehnt, sondern nur die ins Gespräch gebrachte Summe zurückgewiesen wird. Unter günstigeren Bedingungen für Minsk hatte das anders geklungen. Und mittlerweile ist ja in Belarus die Privatisierung von Staatsbetrieben und staatlichen Aktienpaketen seit längerem im Gang.

Bei der Mehrheit der belarussischen Bevölkerung dürften die Drohungen und Erpressungsversuche die Begeisterung für ein enges Zusammenleben mit Rußland kaum fördern. Vor zehn Jahren, als der damalige russische Präsident Wladimir Putin vorschlug, die belarussischen Gebiete sollten sich getrennt als eigenständige Subjekte der Russischen Föderation angliedern (ein Vorschlag, der von Lukaschenko strikt abgelehnt wurde), wollten noch fast die Hälfte der Belarussen in einem gemeinsamen Staat leben. Heute sind es im Ergebnis der russischen Politik laut Umfragen nur noch zehn Prozent.

Willi Gerns