Tibet: 50 Jahre Geschichtsklitterung
Mit einem Gedenktag der Befreiung der Leibeigenen in Tibet wird am kommenden Samstag in der Volksrepublik China an die Ereignisse vor
50 Jahren erinnert. Am 28. März 1959 beendete die chinesische Volksbefreiungsarmee die von der internationalen Tibet-Unterstützerszene und den an sie angeschlossenen Bürgermedien zum »Volksaufstand« aufgebauschten Proteste des tibetischen Mönchsadels um den Dalai Lama, und der penetrant grinsende »Gott-König« sah sich gezwungen, sich mit Unterstützung Washingtons ins indische Nachbarland abzusetzen.
Anläßlich des 50. Jahrestages der sogenannten Adhoc-Resolution vom 11. März 1959, in der die Hintermänner des »Aufstands« die chinesische Oberhoheit über Tibet ab sofort für beendet erklärt hatten, widmete das Bistumsblatt dem Thema am Vortag nicht weniger als vier Sonderseiten, einen mit »Vergewaltigung des Geistes« überschriebenen Leitartikel sowie einen großen Teil des Titelblatts.
Tatsächlich handelte es sich bei den Ereignissen vor 50 Jahren kaum um einen »Aufstand«, schon gar nicht um einen »Massenaufstand« und am wenigsten um einen »Aufstand des tibetischen Volkes«, wie die sogenannten Tibetgruppen immer behaupten. Zunächst waren es mehrheitlich Mönche der örtlichen Großklöster, aber auch bewaffnete Untergrundkämpfer und sonstige Nutznießer und Anhänger der alten Ordnung, die sich am Abend des 8. März 1959 vor dem etwas außerhalb Lhasas gelegenen Sommerpalast des Dalai Lama versammelten. Zweitens waren diese wenigen tausend Menschen nur deshalb gekommen, weil die Feudalklerikalen ihnen vorgegaukelt hatten, die Chinesen hätten vor, den Dalai Lama zu ermorden.
In den folgenden Tagen errichtete die im Verhältnis zur tibetischen Volksgruppe relativ kleine Clique aus Hauptstadtadel und hohem Klerus in Lhasa Barrikaden und griff Einrichtungen der chinesischen Garnison an. Ein hoher tibetischer Beamter, den der feudalklerikale Mob der Kollaboration mit den Chinesen verdächtigte, wurde gelyncht, seine Leiche schleifte man durch die Straßen. Obwohl die Lage zusehends eskalierte, konnte die chinesische Volksbefreiungsarmee erst mit einwöchiger Verzögerung eingreifen. Die Truppenstärke in Lhasa reichte nicht aus, gegen die Protestierenden vorzugehen, es mußte erst Verstärkung zusammengezogen werden. Nach teils heftigen Straßenkämpfen war der »Volksaufstand« in der tibetischen Hauptstadt am 28. März 1959 beendet.
Hintergrund der Proteste war nicht die von ihren Drahtziehern behauptete Absicht der Chinesen, den – immerhin gerade zum Vizepräsidenten des Volksdeputiertenkongresses aufgestiegenen – Dalai Lama zu ermorden, sondern die wachsende Sorge des in Lhasa konzentrierten tibetischen Mönchsadels um seine Privilegien gewesen. Diese sah die feudalklerikale Ausbeuterklasse durch die seit Beginn des Jahres 1959 auch in Tibet fortschreitende Bodenreform bedroht.
So – und nicht mit der bereits mehr als acht Jahre zuvor in Lhasa errichteten chinesischen Garnison – läßt sich auch der Zeitpunkt der Unruhen erklären. In den zehn Jahren seit der Gründung der Volksrepublik China waren die Grundbesitz- und damit auch die Herrschaftsverhältnisse in Tibet weitgehend unangetastet geblieben. Die Bodenreform mit Enteignung und Umverteilung des Landes begann dort erst wenige Wochen vor dem »Volksaufstand« vom März 1959. In ihrem Verlauf erhielten bislang recht- und besitzlose Bauern und Leibeigene eigenes Land. Ihrer Befreiung wird am Samstag gedacht.
Oliver Wagner