Leitartikel22. Oktober 2015

Leben in der Gefahrenzone

von

Während die Langzeitfolgen der anhaltenden Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima noch nicht abzusehen sind, ist das Thema Kernenergie und ihre Gefahren längst wieder aus den Schlagzeilen verschwunden. In Luxemburg reagierten in den Wochen nach dem 11. März 2011, als im Nordosten der japanischen Hauptinsel große Mengen radioaktiver Stoffe freigesetzt wurden, die Luft, Böden und Nahrungsmittel kontaminierten, 150.000 Menschen ihre Häuser verlassen mußten und Millionen Liter strahlende Brühe ins Meer liefen, Zehntausende mit Entsetzen und Trauer.

Und mit der Forderung an die Regierung, »alle zur Verfügung stehenden Mittel auf nationaler Ebene, in der Großregion sowie innerhalb der EU einzusetzen«, damit »sämtliche Atomkraftanlagen, die Luxemburg direkt bedrohen, sofort und endgültig« gestoppt werden. So heißt es in einer Petition, die bis Anfang Oktober des selben Jahres 22.860 Mal unterzeichnet wurde, und der sich sämtliche Parteien und fast alle Gewerkschaften angeschlossen haben. Gleichzeitig traten der Bürgermeisterinitiative gegen Atomkraft 97 der damals 106 verbliebenen Gemeinden bei, und am 26. April 2011 waren 2.000 Menschen dem Aufruf des Aktionskomitees gegen Atomkraft zu einer Manif auf der Place Clairefontaine gefolgt.

Vier Jahre nach der Petitionsüberreichung fällt die Bilanz mager aus. Lediglich das deutsche AKW Biblis wurde im August 2011 stillgelegt. Die beiden veralteten Druckwasserreaktoren werden derzeit im Auftrag von RWE »zurückgebaut«. Im zweiten in der Petition genannten deutschen AKW Philippsburg in Baden-Württemberg wurde Reaktor 1 zwar sechs Tage nach dem Super-GAU in Fukushima abgeschaltet, jedoch soll der Betreiberkonzern EnBW Philippsburg 2, einen 1984 in Betrieb genommenen Druckwasserreaktor, bis Ende 2019 betreiben dürfen, wenn die vereinbarte Reststrommenge nicht vorher erreicht wird.

In Belgien, wo drei vergleichsweise junge Meiler nach einer Pannenserie und einem mutmaßlichen Sabotageakt abgeschaltet werden mußten, wurde das »Atomausstiegsgesetz« zuletzt wieder in Frage gestellt. Das bereits vor zwölf Jahren mit den Stimmen der Liberalen, Sozialisten und Grünen verabschiedete Gesetz sieht vor, die drei ältesten Meiler – die Mitte der 70er in Betrieb genommenen Reaktoren 1 und 2 im AKW Doel bei Antwerpen und Reaktor 1 im AKW Tihange bei Liège bis Ende dieses Jahres abzuschalten und von 2022 bis 2025 auch die verbliebenen vier Meiler stillzulegen und damit ganz aus der Kernenergie auszusteigen.

Schon wegen ihrer Nähe zu Luxemburg sind die in der Petition genannten französischen Atomzentralen Cattenom, Chooz und Fessenheim besonders besorgniserregend. Trotz der von Präsident Hollande versprochenen »transition énergétique« sollen die vier Druckwasserreaktoren im nur neun Kilometer von der luxemburgischen Grenze entfernten Cattenom erst 2027, 2028, 2031 und 2032 vom Netz gehen. Die Reaktoren in Chooz will EDF sogar erst 2037 und 2039 stillegen und die Abschaltung von Fessenheim 1 und 2 hat Umweltministerin Royale kürzlich von Ende 2016 auf 2018 verschoben, weil sie milliardenschwere Schadenersatzforderungen des staatlich dominierten Betreiberkonzerns EDF befürchtet. Die deutsche Regierung wurde wegen ihres Atomausstieges bereits vom schwedischen Vattenfall-Konzern auf Schadenersatz verklagt.

Solche Klagen würden mit Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA zur bitteren Normalität.

Oliver Wagner