Ausland14. März 2023

»Rentenreform« trickreich durch den Senat geschleust

Streiks und Proteste auf der Straße gehen weiter

von Ralf Klingsieck, Paris

Die von Präsident Emmanuel Macron und seiner Regierung geplante »Rentenreform« schwenkt in dieser Woche in die Zielgerade ein und damit verschärfen sich noch einmal die Auseinandersetzungen. Mehr als eine Million Franzosen haben am Samstag am nunmehr schon siebenten Streik- und Aktionstag an landesweit 230 Demonstrationen teilgenommen. Der nächste Aktionstag findet am morgigen Mittwoch statt. Zumindest bis zu diesem Termin gehen viele der seit Tagen anhaltenden Streiks weiter, die gegenwärtig beispielsweise beim Bahnunternehmen SNCF und vielen städtischen Verkehrsbetrieben, in der Energiewirtschaft und in den Raffinerien, in den Seehäfen und den Flüssiggasterminals sowie bei vielen Kommunalbetrieben und der Müllabfuhr stattfinden.

Angesichts der verhärteten Haltung der Regierung, die die von zwei Dritteln der Franzosen abgelehnte »Reform« um jeden Preis durchdrücken will, wird die Frustration unter den protestierenden Menschen immer größer. Besonders empört reagieren viele darauf, daß sich Emmanuel Macron geweigert hat, die Gewerkschaften zu empfangen, die ihm ihre Positionen vortragen wollten. Der Präsident verwies dabei darauf, daß er »die Institutionen respektiere« und daß jetzt das Parlament mit der »Reform« befaßt sei. Das hatte ihn Anfang des Jahres nicht daran gehindert, die Vorsitzenden der großen Parteien und Gewerkschaften ins Élysée zu bitten, um ihnen seine Beweggründe für die »Rentenreform« darzulegen.

Außerdem wurde das Parlament, hinter dem sich Macron jetzt verschanzt, gerade erst von seiner Regierung in seinen Möglichkeiten beschnitten, indem »zur Beschleunigung der Debatte« angesichts der vielen Abänderungsanträge auf Artikel 44.3 der Verfassung zurückgegriffen wurde. Der erlaubt eine einmalige »Blockabstimmung« über alle Artikel eines Gesetzentwurfs, während sonst nach der Debatte zu jedem einzelnen Gesetzartikel separat über diesen abgestimmt wird.

Die linken Senatoren haben das als »undemokratischen Taschenspielertrick« und kritisiert als »Affront für zwei Drittel der Franzosen, die die ‚Reform‘ ablehnen und von denen viele auf die Straße gehen«. Doch da die Senatoren der rechten Oppositionspartei der Republikaner dieses Manöver des Regierungslagers unterstützt haben, kam es am Samstagabend tatsächlich zu der »Blockabstimmung«, mit der das Gesetz erwartungsgemäß die nötige Mehrheit erhielt.

Da vor zwei Wochen in der Nationalversammlung keine Abstimmung über das Gesetz zustande gekommen war, muß sich am kommenden Mittwoch eine aus je sieben Abgeordneten und Senatoren zusammengesetzte Parlamentskommission auf einen »Kompromißtext« einigen. Über den müssen dann am Donnerstag beide Kammern des Parlaments abschließend abstimmen – bei einem unterschiedlichen Ausgang gibt das Votum der Nationalversammlung den Ausschlag. Da auch hierbei viele Republikaner der Regierung zur Seite stehen dürften, hofft die Regierung auf eine Annahme des »Reformgesetzes«.

Da es selbst in der Regierungspartei Renaissance einige Dissidenten gibt, die die Reform kritisch sehen und sich möglicherweise der Stimme enthalten wollen, hat die Parteiführung angedroht, daß jeder Renaissance-Abgeordnete, der abweichend votiert, aus der Fraktion ausgeschlossen wird.

Notfalls bleibt der Regierung noch der Rückgriff auf den Artikel 49.3 der Verfassung, um die Abstimmung mit der Vertrauensfrage zu verbinden, wie sie das im vergangenen Herbst ein Dutzend Mal praktiziert hat. So könnte die »Rentenreform«, wie von Macron beabsichtigt, kurzfristig und wahrscheinlich bereits im September in Kraft treten.

Es bleibt abzuwarten, welche Konsequenzen es für den Präsidenten und seine Regierungsmannschaft haben wird, daß sie nicht auf die Demonstranten gehört und sich über die Meinung der großen Masse der Franzosen hinwegsetzt und sie mit demokratisch fragwürdigen Tricks ausmanövriert haben. Um eine solche, für den nationalen Zusammenhalt bedenkliche Entwicklung abzuwenden, fordert der Vorsitzende der Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger, die Debatte über die »Rentenreform« durch ein Referendum abzuschließen, »bei dem alle Franzosen ihre Meinung zum Ausdruck bringen können«.