Gefährliche Scheinlösung Atomkraft
Obwohl AKW gefährlich, teuer und nur langsam verfügbar sind, setzen die Regierungen in Paris und Brüssel auf eine Wiederbelebung der Kernenergienutzung
Reichte den Italienern die Reaktorkatastrophe 1986 in Tschernobyl, um sich schon im Folgejahr in einer Volksabstimmung von der zivilen Nutzung der Kernenergie zu verabschieden, so sah sich die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel wegen des nach der dreifachen Reaktorkernschmelze in Fukushima im Frühjahr 2011 erheblich gestiegenen öffentlichen Drucks gezwungen, ihren erst wenige Monate zuvor verkündeten Ausstieg aus dem Atomausstieg wieder zurückzunehmen.
Für Luxemburg und seine Bewohner hatte der jenseits der Mosel dann doch vollzogene Atomausstieg den Vorteil, daß die beiden jeweils rund 150 Kilometer entfernten deutschen Atomzentralen Biblis in Hessen (noch im März 2011) und Philippsburg in Baden-Württemberg (Reaktor 1 ebenfalls 2011, Reaktor 2 Ende 2019) endgültig stillgelegt wurden. Mittlerweile wurde in Biblis und Philippsburg mit dem noch viele Jahre dauernden »Rückbau« der Anlagen begonnen.
Ganz anders als östlich sieht es jedoch südlich und nordwestlich unserer Grenze aus. Nach dem rechtsliberalen französischen Präsidenten Emmanuel Macron setzt auch der flämische Nationalist Bart De Wever, der seit Anfang Februar belgischer Premier ist, auf die Wiederbelebung der Atomkraftnutzung. De Wever hat in seiner Regierungserklärung angekündigt, dem im Januar 2003 unter grüner Regierungsbeteiligung beschlossenen belgischen Atomausstiegsgesetz schleunigst das Ende zu bereiten.
Tatsächlich hatte das bereits die Vorgängerregierung – an der ironischerweise wiederum die beiden grünen Parteien Ecolo aus der Wallonie und Groen aus Flandern beteiligt waren – im Juni 2023 besorgt, als man sich mit dem Atomkraftwerksbetreiber Engie darauf verständigte, Reaktorblock 4 in der Atomzentrale Doel bei Antwerpen und Reaktorblock 3 in der die Bewohner Luxemburgs unmittelbar bedrohenden Atomzentrale im nur 65 Kilometer entfernten Tihange bei Lüttich nicht wie gesetzlich festgelegt spätestens am Ende dieses Jahres für immer vom Netz zu nehmen, sondern beide Reaktorblöcke noch zehn Jahre länger, also bis 2035, laufen zu lassen.
Mitte Mai kippte das belgische Parlament den 2003 von ihm beschlossenen Atomausstieg, der 2025 abgeschlossen sein sollte, endgültig. Nun ist auch der Bau neuer Meiler möglich. Theoretisch könnten sogar die drei bereits stillgelegten Reaktoren in Tihange und Doel wieder hochgefahren werden. Derzeit laufen an beiden Standorten noch vier Reaktorblöcke. Der Neubau von Atomkraftwerken wird jedoch regelmäßig teurer und dauert auch viel länger als veranschlagt. Auch deshalb sind in der gesamten EU seit 1997 lediglich zwei AKW ans Netz gegangen: Olkiluoto 3 an Finnlands Westküste Anfang 2022 und Flamanville an der französischen Kanalküste Ende 2024.
Beide Nuklearanlagen hätten nach einer Bauzeit von fünf Jahren fertig sein sollen, benötigten aber 17 Jahre. Die Baukosten stiegen von jeweils unter vier Milliarden auf 13,3 Milliarden Euro in Frankreich und auf elf Milliarden in Finnland. Außerhalb der EU spielt sich an der Bristolkanalküste zwischen England und Wales derzeit Ähnliches ab. In Hinkley Point wird seit neun Jahren an zwei neuen Reaktoren gebaut, die eigentlich 2025 fertiggestellt sein und umgerechnet 19 Milliarden Euro kosten sollten. Derzeitiger Stand: Es wird wohl bis 2031 dauern, und die Betreiber müssen eher mit Baukosten von 55 Milliarden Euro rechnen.