Ausland22. Februar 2022

Protest in über 40 Städten

Zehntausende protestierten in Italien gegen Schülertod »in der Welt der Arbeit und des Profits«

von Gerhard Feldbauer

Zum vierten Mal seit November vergangenen Jahres sind am Freitag in über 40 Städten – von Turin und Mailand, über Rom bis Bari und Palermo – Zehntausende Schüler der Gymnasien auf die Straße gegangen, um gegen die Misere an den Schulen zu protestieren, die Abschaffung der »Pathways for Transversal Skills and Orientation« (»Wechsel von der Schule zum Beruf«) und die Sicherheit des Lebens zu fordern. Letzter Anlaß war, daß die Gymnasiasten Lorenzo Parelli (18) und Giuseppe Lenoci (16) während eines Betriebs-Praktikums ums Leben kamen. Im Fall Lorenzo Parelli, der von einer 150 Kilogramm schweren Metallstange, die von einem 15 Meter hohen Gerüst fiel, auf den Kopf getroffen wurde, ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts einer fahrlässigen Tötung.

Die Proteste wurden von den drei großen Gewerkschaften GIL, CISL und UIL und der Basis-Gewerkschaft USB unterstützt. Kommunisten, Linke wie die Partei Potere al Popolo solidarisierten sich mit den Schülern. Lorenzo Giustolisi vom USB-Vorstand nannte den Tod der beiden Gymnasiasten eine Folge ihrer »Einbeziehung in die Welt der Arbeit und des Profits«. In dieser Welt starben vom Januar bis Oktober 2021 mehr als 1.000 Menschen am Arbeitsplatz, durchschnittlich drei pro Tag. So viele waren es, wie das linke »Manifesto« berichtete, auch am Vortag des Schülerstreiks, wieder: Ein Fischer, ein Arbeiter und ein Lastwagenfahrer.

Das kommunistische Onlineportal »Contropiano« hob hervor, daß Demonstranten vielerorts den Sozialdemokratischen Partito Democratico, der zusammen mit Faschisten in der Draghi-Regierung sitzt, für die Misere an den Schulen mit verantwortlich machten. In Neapel beschmierten sie sich vor der PD-Zentrale mit »rotem Blut«, um die Verantwortung der Sozialdemokraten für den Tod von Lorenzo und Giuseppe anzuzeigen.

In Turin, wo es in den vergangenen zwei Wochen mehr als vierzig Besetzungen an den Schulen gab, demonstrierten 4.000 Menschen zur Zentrale des Industriellenverbandes Confindustria. Auf Plakaten hieß es »Unser Leben ist nichts wert, nur dein Profit« oder »Im schlimmsten Fall stirbt man in diesem System der Ausbeutung, im besten Fall ist man lebenslang unsicher«.

Die staatliche Nachrichtenagentur ANSA berichtete, daß Militanten des Askatasuna-Sozialzentrums Farbbeutel warfen und Einlaß forderten, der ihnen von einem Trupp Carabinieri verwehrt wurde. Bei den Zusammenstößen wurden sieben Polizisten verletzt. Ein Vertreter des Turiner AStA distanzierte sich von dem Vorgehen, Innenministerin Luciana Lamorgese sprach den Polizisten »Solidarität und Dankbarkeit« aus. »Contropiano« vermerkte, daß die Übergriffe in Turin als Reaktion auf die Repression der Polizei zu sehen seien, die am 28. Januar in Turin auf der Piazza Vincenzo Arbarello im Zentrum der Stadt mit Schlagstöcken gegen Schüler vorging und 40 von ihnen verletzte.

In Mailand versammelten sich die Gymnasiasten auf der Piazza Cairoli und forderten die Abschaffung des Wechsels zwischen Schule und Arbeit, »der nur ein Wechsel zur Ausbeutung« sei: »Wir wollen ein anderes Schulmodell, mit Sicherheit am Arbeitsplatz«. In Rom, wo in den vergangenen Wochen ebenfalls 50 Schulen besetzt wurden, forderten Vertreter der Schülervereinigung Lupa die sofortige Rücknahme der schriftlichen Abitur-Prüfungen, weil diese »die tiefe psychologische und pädagogische Krise, die wir erleben, nicht berücksichtigen«. In Rom wurde, wie auf anderen Kundgebungen auch, Bildungsministerin Patrizia Bianchi als Verantwortliche für die chaotischen Zustände bezeichnet und deren Rücktritt gefordert..

Das Studentenkollektiv des Liceo Artistico von Neapel verwies auf den Lehrermangel, konkret das Fehlen von 120.000 Lehrern, und darauf, daß es demzufolge an dieser Schule nicht genügend Lehrpersonal gibt, um den Unterricht zu gewährleisten, und darauf, daß der Stundenplan nicht das Privatleben der Schüler und ihre psychische Gesundheit berücksichtigt. »Wir dürfen keine Pause machen, um zu essen, wir werden von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, erhalten auf unsere Vorschläge keine Antwort« erklärten die Schülervertreter.

Am Gymnasium Boggio Lera in Catania erklärten die Schülervertreter angesichts der Untätigkeit der Direktion, die Leitung der Schule in »Selbstverwaltung« zu übernehmen. An der Schule ist vor drei Monaten das Dach eingestürzt, bisher nicht repariert und das Gebäude der Witterung ausgesetzt.