Ausland25. Juli 2023

Wettlauf um Chips

Die EU will Halbleiterindustrie fördern und lockert mit dem »European Chips Act« Subventionsregeln. Größtes Hindernis ist der Wirtschaftskrieg gegen China

von Jörg Kronauer

Seit einer reichlichen Woche ist er faktisch unter Dach und Fach: der »European Chips Act«, den das EU-Parlament am 11. Juli in erster Lesung abgesegnet hat. Er sieht vor, mit neuen Investitionen im Wert von rund 43 Milliarden Euro die schwächelnde Halbleiterindustrie in der EU so weit wie möglich auf Weltniveau, und das heißt in der Branche heute: auf ostasiatisches Niveau zu pumpen.

Aktuell kommen die Chipfabriken in der EU auf einen Weltmarktanteil von mageren neun Prozent. Geht es nach der EU, sollen es im Jahr 2030 wenigstens 20 Prozent sein. Da die Produktion insbesondere in Asien, inzwischen aber auch wieder in den USA in hohem Tempo wächst, ist dafür nicht eine Verdoppelung, sondern mindestens eine Vervierfachung des Chipausstoßes im Bereich der EU erforderlich; Klotzen statt Kleckern ist angesagt. Der neue »European Chips Act«, dem nun noch der Europäische Rat in aller Form zustimmen muß, soll dafür die Schleusen öffnen.

Ehrgeizige Projekte

Erste Anfänge sind inzwischen gemacht – und Deutschland ist weit vorn mit dabei. Der Dax-Konzern Infineon investiert an seinem Standort in Dresden rund fünf Milliarden Euro in ein neues Werk. Hergestellt werden sollen dort unter anderem Chips, die zur Dekarbonisierung nützlich sind und beispielsweise in Ladegeräten eingesetzt werden.

Ein zweites Beispiel: Der US-amerikanische Chiphersteller Wolfspeed baut gemeinsam mit dem Kfz-Zulieferer ZF für ungefähr drei Milliarden Euro im saarländischen Ensdorf die weltgrößte Fabrik für Halbleiter aus Siliziumkarbid; mit ihnen kann man die Reichweite von Elektroautos steigern und die Ladezeiten verkürzen. Bosch investiert jeweils dreistellige Millionensummen in Dresden und in Reutlingen.

In Crolles bei Grenoble bauen die französisch-italienische Stmicro und der USA-Konzern Globalfoundries für 7,5 Milliarden Euro eine Chipfabrik, in der sie gleichfalls Halbleiter für die Kfz-Branche herstellen wollen. Und all das ist bloß eine Auswahl. Inzwischen seien in 15 EU-Staaten 68 strategisch wichtige Projekte gemeldet worden, teilte EU-Industriekommissar Thierry Breton mit: Es geht voran.

Das mit Abstand größte Projekt hat sich dabei der US-amerikanische Konzern Intel vorgenommen. Er will in Magdeburg für 27 Milliarden Euro eine Chipfertigung aufbauen; das sind zehn Milliarden Euro mehr als zunächst geplant. Die Kostensteigerung liegt auch daran, daß Intel dort die modernsten Maschinen des niederländischen Konzerns ASML einsetzen will; mit ihnen wird es möglich sein, Halbleiter in einer Größe von unter 5 Nanometern zu produzieren. Damit wäre der deutsche Standort im internationalen Vergleich relativ weit vorn.

Freilich sind die Subventionen, die Intel verlangt, gewaltig: Der Konzern hat zehn Milliarden Euro gefordert, mehr als Bundesfinanzminister Christian Lindner zahlen wollte; auf Druck vor allem der Grünen hat er letztlich nachgegeben. Auch für die weiteren Halbleiterwerke zahlt Berlin riesige Summen; Infineon kassiert eine Milliarde Euro, Wolfspeed und ZF erhalten ein Viertel des Investitionsbetrags vom Staat. Auch Paris legt immense Beträge auf den Tisch; allein in Crolles sind es 2,9 Milliarden Euro.

Intel sticht nicht nur mit der Investitionssumme heraus, sondern auch damit, daß der Konzern die komplette Wertschöpfungskette in der EU abzudecken versucht. Er will neben seinen bereits bestehenden Fabriken in Irland und den neu entstehenden in Deutschland auch ein Werk in Polen bauen. Werden in Leixlip bei Dublin und in Magdeburg Halbleiter gefertigt – die Branche spricht von »Frontend« –, so müssen sie anschließend noch verpackt und getestet werden.

Das sogenannte Backend ist recht arbeitsaufwendig, und es wird daher gerne in Länder mit niedrigem Lohnniveau verlagert. Intel unterhält Backend-Werke unter anderem in Malaysia. In Zukunft will Intel seine Chips auch in Polen verpacken und testen; der Konzern hat angekündigt, dafür 4,6 Milliarden US-Dollar in ein Werk in Wroclaw zu investieren.

Risiken bleiben

Milliardeninvestitionen sind gemeldet und beginnen langsam zu fließen. Steht die EU, der zuletzt außer stolzen Worten so viel mißlang, mit dem European Chips Act wieder vor einem realen Erfolg? Nun, klar ist das noch lange nicht. Allerlei Risiken begleiten das Programm. Nicht das geringste ist, daß der globalen Halbleiterbranche wegen des -Wirtschaftskriegs der USA gegen China schwere Erschütterungen drohen.

Was, wenn China in Abwehr der USA-Sanktionen Gegenmaßnahmen verhängt und die Lieferung unverzichtbarer Rohstoffe in die EU einschränkt? Dann säßen die europäischen Chip-Milliardenprojekte wohl schnell auf dem Trockenen.

Was, wenn Infineon wegen eskalierender USA-Sanktionen gezwungen wird, sein Chinageschäft abzuspalten, wie es kürzlich die US-amerikanische Venture-Capital-Firma Sequoia tun mußte? Immerhin erzielte der Dax-Konzern zuletzt 37,9 Prozent seines Umsatzes in der Volksrepublik. Könnte er, sollte sich der Wirtschaftskrieg weiter zuspitzen, in der Bundesrepublik weiterwachsen?

Risiken bleiben also. Und es ist noch anzumerken: Der »European Chips Act« kommt gewaltig daher, aber er kostet die EU selbst genaugenommen – nichts. Er soll 43 Milliarden Euro, wie man so sagt, »mobilisieren«. Die EU-Kommission will »Anreize schaffen«, damit Konzerne fleißig investieren und Mitgliedstaaten kräftig subventionieren; dazu lockert sie beispielsweise die Subventionsregeln.

Die EU selbst stellt lediglich 3,3 Milliarden Euro für Subventionen bereit, und auch das sind nur Gelder, die aus anderen Töpfen, in denen sie längst eingeplant waren, entnommen und umgewidmet wurden. Der Rest muß von den Mitgliedstaaten und von privaten Investoren kommen.

Das Problem: Die USA investieren bekanntlich 53 Milliarden US-Dollar in ihre Halbleiterbranche. 3,3 Milliarden Euro sehen im Vergleich dazu arg knickerig aus. Wenn man mit dem Konkurrenten aber nicht mithalten kann oder will, dann hilft nur eins: das eigene Projekt kräftig aufblasen.

Headhunting

Wenn da nicht auch noch die Menschen wären bzw., wie es im Jargon bürgerlicher Ökonomen heißt, »das Humankapital«. Da läßt man mühsam für Dutzende Milliarden Euro gigantische Fabriken für Halbleiter aus dem Boden stampfen – und dann? Dann müssen auch noch Arbeitskräfte gefunden werden, die die kostspieligen Hightechfabriken am Laufen halten, hochqualifiziertes Personal in großer Zahl.

Das Problem: In der Bundesrepublik herrscht gravierender Mangel an einschlägigen Spezialisten. Im März stellte das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln ernüchtert fest, »in Berufen der Halbleiterindustrie« gebe es schon heute im Jahresdurchschnitt 62.000 Fachkräfte zu wenig. Allein Intel benötigt für seinen geplanten Standort in Magdeburg wohl 3.000 Arbeitskräfte. Bei den Zulieferern kommen bis zu 20.000 weitere hinzu, nicht selten ebenfalls hochspezialisiertes Personal. Für die Halbleiterregion Dresden geht der Branchenverband Silicon Saxony von gut 100.000 Hightecharbeitsplätzen im Jahr 2030 aus – rund 30 Prozent mehr als heute.

Kampf um Köpfe

Woher all die Hightechspezialisten für die neuen Halbleiterfabriken kommen sollen, ist, gelinde gesagt, unklar. Das »Handelsblatt« zitierte dazu Berechnungen der Beratungsfirma PwC Strategy&, denen zufolge bei einem erfolgreichen Aufbau der erwünschten neuen Chipfabriken EU-weit im Jahr 2030 bis zu 350.000 Hightecharbeitskräfte fehlen könnten.

Für die Chipproduzenten steht also nach dem Kampf um die Subventionen jetzt ein Kampf um Köpfe bevor. Aus dem Boden stampfen kann man sie nicht: Es vergingen locker vier, fünf Jahre, bis Studenten den oft erforderlichen Masterabschluß in der Tasche hätten, warnt das »Handelsblatt«. Beim Abwerben qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland hapert es in Deutschland bekanntlich – Stichworte: Einwanderungsbürokratie, Rassismus. Außerdem werden zur Zeit überall auf der Welt brandneue Chipwerke mit großem Personalbedarf hochgezogen, von Ostasien über – obwohl das Foxconn-Großprojekt gerade gescheitert ist – Indien und Israel bis zu den USA.

Die Konkurrenz ist hart. Der US-amerikanische Chiphersteller Wolfspeed kooperiert beim Bau seiner neuen Halbleiterfabrik auch deshalb mit dem Kfz-Zulieferer ZF, weil der ihm – so die Hoffnung – Personal überlassen kann. Ob der Plan aufgeht? Wer weiß.

Wie schwierig sich die Personalsituation gestalten kann, zeigen aktuell die Investitionen von TSMC aus Taiwan im USA-Bundesstaat Arizona. Weil schon für die hochkomplexe Installation der Anlagen zur Chipproduktion offenbar nicht genügend Fachkräfte im eigenen Land gefunden wurden, hat TSMC in erheblicher Anzahl Spezialisten aus Taiwan eingeflogen.

In Arizona macht sich nun die Sorge breit, die erhofften Arbeitsplätze für Einheimische könnten auf Dauer von Taiwanern übernommen werden. Die arbeiten zudem laut Berichten zu Bedingungen, wie sie an den TSMC-Heimatstandorten üblich sind: endlose Überstunden, kein freies Wochenende und dergleichen mehr. Auch US-amerikanische Angestellte beklagen schon brutale Arbeitsbedingungen.

Zugegeben, das sind Startschwierigkeiten. Sie geben aber einen Vorgeschmack darauf, daß der Bau neuer Hightechfabriken zur Chipproduktion kein Selbstläufer ist.