Ausland05. November 2024

Wende in Frankreichs Beziehungen zu Marokko

»Strategische Kooperation« ist auch Signal gegen Algerien

von Ralf Klingsieck, Paris

Der Staatsbesuch, der Präsident Emmanuel Macron in der vergangenen Woche nach Marokko führte, war weit mehr als diplomatische Routine. Hier wurden Weichen für einen neuen Kurs gestellt, der einer Kehrtwende nahekommt und Frankreichs Politik gegenüber den ehemaligen Kolonien und Mandatsgebieten in Nordafrika eine neue Dimension gibt.

Der dreitägige Besuch des Präsidenten in Rabat war der erste seit sechs Jahren und sollte nach dem Willen beider Seiten einen Schlußstrich unter eine Zeit angespannter Beziehungen ziehen und einen Neuanfang einleiten. Historisch waren die Beziehungen zu Frankreich, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 44 Jahre lang Marokkos Mandatsmacht war, besser als zur ehemaligen Kolonie Algerien.

Das vergebliche Bemühen Macrons um eine Normalisierung mit Algier war immer ein rotes Tuch für Rabat, wo man seit vielen Jahren eine tiefe Feindschaft gegenüber dem Nachbarland pflegt, vor allem weil Algier das Streben der ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara nach Unabhängigkeit politisch, wirtschaftlich und militärisch unterstützt. Über dieses dem Völkerrecht nach autonome Gebiet streiten und bekämpfen sich Marokko und die Rebellen der von Algerien unterstützten Bewegung Frente Polisario seit Jahrzehnten.

Marokkos Ansprüche wurden in Paris in all diesen Jahren weder unterstützt noch abgelehnt, sondern diplomatisch übergangen. Das verärgerte den König und die Regierung in Rabat, ebenso wie die Kritik französischer Politiker und Organisationen an der Diktatur, den undemokratischen Zuständen und den Menschenrechtsverletzungen in Marokko. In den letzten Jahren hat sich das noch zugespitzt durch die Hinhaltetaktik der Behörden in Rabat, die für illegal nach Frankreich geflüchtete Landsleute Wiedereinreisepapiere nur höchst zögerlich ausstellten, worauf Paris mit der Kürzung der Zahl von Visa für marokkanische Politiker, Geschäftsleute und Privatreisende reagierte.

Hinzu kam die Affäre um die israelische Spionagesoftware Pegasus, mit deren Hilfe der marokkanische Geheimdienst die Mobiltelefone französischer Politiker und Journalisten abhörte, selbst das von Präsident Macron. Auf die öffentliche Kritik daran reagierte Rabat beleidigt und schlug selbst die französischen Hilfsangebote nach dem starken Erdbeben mit mehr als 2.000 Toten im September 2023 aus.

Unter solchen Bedingungen eine tiefgreifende Wende in den bilateralen Beziehungen einzuleiten, war kein leichtes Unterfangen. Macron hat es gewagt, sicher nicht zuletzt um Ersatz für die rettungslos festgefahrenen Beziehungen zu Algerien zu finden. Außerdem wollte er nach dem Desaster in den Ländern der Sahel-Zone, wo nah Umstürzen neue Regierungen Frankreich des Landes verwiesen haben, in Afrika einen Fuß in der Tür behalten.

Als Hebel hat Macron nun das für Rabat sensible Thema Westsahara benutzt. In einem Brief an König Mohammed VI. zu dessen 25-jährigem Thronjubiläum am 30. Juli 2024 hatte der Präsident überraschend erklärt, daß Frankreich die Ansprüche Marokkos auf dieses Territorium als legitim anerkennt und daß der 2007 von Mohammed VI. vorgelegte Plan für eine Autonomie innerhalb des marokkanischen Staatsgebiets die »einzige sinnvolle Basis für Verhandlungen« sei.

Nun ging alles ganz schnell und alle bisher verschlossenen Türen öffneten sich. In Rabat wurde Macron mit höchsten Ehren begrüßt, bei der Fahrt mit dem König durch die Straßen der Stadt jubelten ihm Menschen zu und untereinander duzten sich die beiden Staatsoberhäupter einander fast schon wie Freunde. Als besondere Ehre durfte Macron eine Rede im Parlament halten, wo ihm die Abgeordneten stürmischen Beifall spendeten.

In seiner Rede pochte Macron nicht zuletzt auf eine bessere Zusammenarbeit im konsularischen Bereich, was nichts anderes heißt, als daß sich Rabat bei Abschiebungen kooperativer zeigen soll. Das Ausländerthema wird in der französischen Innenpolitik durch das rechtsextreme Rassemblement national am Kochen gehalten, und Marokkaner gehören neben Algeriern zu den Ausländern, deren Asylantrag meist abgelehnt wird und die entsprechend am häufigsten abgeschoben werden sollen. Jetzt unterzeichneten die Innenminister beider Länder in Anwesenheit ihrer Staatsoberhäupter ein Abkommen, das dieses Problem aus dem Weg schaffen soll.

Auch in den Gesprächen und Verhandlungen der mehr als 100 Minister und Konzernchefs, die den Präsidenten begleiteten, ging vieles plötzlich reibungslos, was bisher zäh verlaufen war. Insgesamt wurden Handels- und Investitionsabkommen im Umfang von rund zehn Milliarden Euro unterzeichnet. Dazu gehören Streckenbauten und Züge für Marokkos anspruchsvolles Netz von Hochgeschwindigkeitszügen.

Doch das politisch gewichtigste Ergebnis ist die Absicht beider Seiten, eine »Strategische Partnerschaft« einzugehen, die erste, die Frankreich mit einem Land außerhalb der EU schließt. Unterzeichnet wird dieses Abkommen 2025 in Paris bei einem Gegenbesuch des marokkanischen Königs. Es wird nicht zuletzt eine Abstimmung über die Interessen und Absichten in der Sahel-Zone vorsehen, wo Marokko erheblich an Einfluß gewonnen hat, seit Frankreich hier den seinen verloren hat.

Das dürfte auch Folgen für die Konkurrenz zwischen Marokko und Algerien in der Region haben. Beispielsweise ist noch nicht entschieden, wie das in Nigeria entdeckte Erdgas, das gefördert und zu großen Teilen nach Europa exportiert werden soll, dorthin gelangen wird. Ein algerisches Projekt sieht eine Pipeline quer durch die Sahara bis zur Mittelmeerküste vor, wo das Gas verflüssigt und per Tanker nach Europa transportiert werden soll. Ein marokkanischer Gegenvorschlag plant Pipelines, die von Nigeria bis zur Meerenge von Gibraltar entlang der westafrikanischen Küste in Ufernähe unter Wasser vergraben werden.

Unter den Bedingungen der neuen französisch-marokkanischen Partnerschaft dürfte diese Variante jetzt die besseren Chancen haben, zumal die Unterwasser-Pipeline auch sicherer vor djihadistischen Sabotageakten ist als die Leitung durch die Wüste. Problematischer ist die Frage, ob das Projekt überhaupt noch sinnvoll ist, denn in 30 Jahren, wenn es fertig sein könnte, will die Europäische Union ja bereits komplett auf fossile Brennstoffe verzichtet haben.