Ausland03. Februar 2022

Opfer skrupelloser Geschäftemacher

Investigativer Journalist tritt in Frankreich nationale Debatte über die Behandlung von Pflegeheim-Insassen los

von Ralf Klingsieck, Paris

Über Mängel und menschenunwürdige Vernachlässigungen in Pflegeheimen berichten die Medien häufig. Doch daß es sich dabei nicht nur um Einzelfälle handelt, sondern daß dahinter nur zu oft ein kaltblütig kalkulierendes System steckt, belegt ein in der vergangenen Woche veröffentlichtes Buch, das schon mit seinem Titel »Les Fossoyeurs« (Die Totengräber) aufrüttelt. Der freiberufliche investigative Journalist Victor Castanet hat dafür drei Jahre lang in ganz Frankreich recherchiert und die Aussagen von mehr als 200 Zeugen festgehalten. Das sind Familienangehörige betroffener Insassen, doch vor allem aktive oder ehemalige Mitarbeiter und Manager von Pflegeheimen.

Im Zentrum des Buches stehen die Untersuchungen des Autors über die französische Gruppe Orpéa, einen Weltmarktführer auf diesem Gebiet. Sie wurde 1989 von dem Neuropsychiater Dr. Jean Claude Marian gegründet, der sich inzwischen mit einem Vermögen von 400 Millionen Euro zur Ruhe gesetzt hat. Die Gruppe betreibt mehr als 1.100 Privatkliniken und Pflegeheime mit insgesamt 116.000 Betten in 23 Ländern Europas, davon allein 220 Heime in Frankreich und mehr als 130 in Deutschland.

Den ersten Hinweis auf skandalöse Zustände bei Orpéa bekam der Buchautor von dem Pflege-Manager Laurent Garcia, der in einem Heim der Gruppe gearbeitet hat, bevor er das Unternehmen verließ. Zu den Kronzeugen gehört auch Camille Lamarche, die als Juristin in der zentralen Personalabteilung der Gruppe gearbeitet hat und die dem Buchautor nicht nur ihr Wissen, sondern auch firmeninterne Dokumente wie Weisungen, Berichte und Mails überlassen hat. Sie gehört zu den Insidern, die über die menschenverachtende Firmenpolitik empört sind, sich nicht länger mitschuldig machen wollen und bereit sind, in einem eventuellen Prozeß als Zeugen auszusagen.

»Im Mittelpunkt steht bei Orpéa nicht das Wohl der Patienten, sondern allein die Rentabilität«, sagt Laurent Garcia. Am Personal und an allen materiellen Ausgaben wird rigoros gespart, damit vom Geld der Krankenkassen, der Gesundheitsbehörden und der Insassen so viel wie möglich zurückbleibt. Ein geflügeltes Wort in der Direktionsetage von Orpéa lautet »Il faut que ça crache!« (Es muß sprudeln!). Die Aktionäre konnten zufrieden sein. So hat Orpéa 2020 bei einem Umsatz von 3,9 Milliarden Euro 160 Millionen Gewinn erwirtschaftet, während es beim Hauptkonkurrenten Korian bei 3,8 Milliarden Umsatz »nur« 65 Millionen waren.

Selbst im pompösen Vorzeigeheim von Orpéa im Pariser Nobelvorort Neuilly-sur-Seine, wo Laurent Garcia gearbeitet hat und wo ein Einzelzimmer 7.000 Euro im Monat kostet und eine Suite 12.000 Euro, gelten die strikten Sparanweisungen. Eine firmenintern entwickelte Computersoftware diktiert jeden Handgriff und vergibt Pluspunkte für die Pflegekraft bei Zeit- und Materialeinsparungen oder Abzüge bei zu viel Aufwand für den Patienten. »In- und ausländische Investoren werden nur durch die ersten zwei Etagen geführt«, erinnert sich Laurent Garcia. »Wie es in den oberen Etagen zugeht, wo die Pflege regelrecht industrialisiert ist, ahnen sie nicht.« Hier ist zeitweise eine Pflegekraft für 30 Patienten zuständig, die oft stundenlang sich selbst überlassen bleiben.

»Die tägliche Hygiene, die medizinische Betreuung, das Essen – alles ist auf ein Minimum rationiert«, sagt Laurent Garcia. Beim Material und bei den Lebensmitteln werde grundsätzlich nur das Billigste eingekauft. »Windeln gibt es nur drei pro Tag, selbst wenn der Patient Durchfall hat, und sie werden entsprechend selten gewechselt, was qualvoll und erniedrigend für die Betroffenen ist.«

Zu den im Buch geschilderten Einzelschicksalen gehört der tragische Fall der ehemaligen Schauspielerin und Schriftstellerin Françoise Dorin, die an Alzheimer erkrankt und für 7.000 Euro im Monat im Orpéa-Heim in Neuilly untergebracht war. Hier ist die 89-Jährige qualvoll an Blutvergiftung gestorben, weil ihre durch langes Liegen verursachten Druckgeschwüre wochenlang übergangen und erst viel zu spät medizinisch behandelt wurden.

Als Anfang vergangener Woche über die Medien erste Auszüge aus dem Buch bekannt wurden, hat die Gruppe Orpéa aggressiv reagiert. »Wir weisen die Anschuldigungen zurück, die wir als unwahr, beleidigend und schädlich betrachten«, hieß es in einer ersten Presseerklärung, in der von »sensationslüsternen Entgleisungen« die Rede ist und juristische Schritte angedroht werden. Als zwei Tage später das Buch vorlag und damit die Schwere der Vorwürfe und das Gewicht der Beweise erkennbar waren, wurde die Orpéa-Geschäftsleitung kleinlaut und kündigte eine unabhängige Untersuchung durch eine externe Audit-Agentur an. Jetzt geht es nur noch um Schadensbegrenzung, denn der Aktienkurs der Orpéa-Gruppe an der Pariser Börse ist gleich am ersten Tag um 16 Prozent abgestürzt und sank innerhalb einer Woche um insgesamt 52 Prozent.

»Das ist eine Sprache, die die Chefs der Gruppe verstehen«, ist Laurent Garcia überzeugt. Er betont, daß der Journalist Victor Castanet für sein Buch in ganz Frankreich und nicht nur in Orpéa-Heimen recherchiert hat. Er verallgemeinere nicht und schildere auch positive Ausnahmen, doch nur zu oft mußte er ähnliche Zustände feststellen wie in Neuilly. Besonders betrifft das die 25 Prozent der Heime, die von privaten Unternehmen getragen und vor allem profitorientiert geführt werden. Sie erhielten ihre behördliche Zulassung nur, weil die Zahl der öffentlichen oder von gemeinnützigen Vereinigungen betriebenen Pflegeheime nicht ausreicht. Dort kostet der Aufenthalt im Schnitt 1.800-2.000 Euro im Monat, während es bei den privaten 2.600 Euro sind. Doch überall werde in oft sträflicher Weise an Personal und Material gespart.

Die daraus resultierende menschenunwürdige Vernachlässigung der Patienten sei nicht die Schuld der Pflegekräfte, meint Laurent Garcia, sondern derer, die für die Bereitstellung der Mittel verantwortlich sind. Der zweite Skandal sei, daß alle Heime viel zu selten von den Arbeitsinspektionen, den Krankenkassen und den regionalen Gesundheitsagenturen kontrolliert werden. Laurent Garcia schlägt eine unabhängige Institution speziell für die Kontrolle der Pflegeheime vor, und im Parlament wird gefordert, den Abgeordneten das Recht für unangekündigte Kontrollbesuche einzuräumen, wie sie es schon für die Gefängnisse haben.