Kultur11. Januar 2013

Marielys Flammang wendet vor dem »no return«

In »Wendepunkt«, Marielys Flammangs neuer Sammlung von Kurzgeschichten, bindet die Autorin wieder mit einem Genre an, in dem sie sich zwar wohl zu fühlen scheint, hie und da sogar glänzt, sie es doch nicht immer über das Tal mittelmäßiger Wirkung hinaus bis auf die Höhen erzählerischer Aussagekraft schafft. Schon vor sieben Jahren beim Lesen von »Bilder aus den Zwi­schenräumen« (R.G. Fischer Verlag, Frankfurt), fühlte ich mich manchmal wie auf einer Art Achterbahn. Hier einschneidend, da eher banal, dort jedermanns Sache, anderswo etwas egozentrisch, meistens flott und spannend, doch hie und da gegen Ende abflauend, lässt sich das Erzählte jedoch immer angenehm lesen. Der Stil ist nämlich durch und durch flott, ja mit unverkennbar marielysschem Brio geschrieben.

Die erste Kurzgeschichte führt uns in und nicht ganz durch einen Tunnel. Der Tunnel ist eine dem Platonhöhlengleichnis verwandte Allegorie. Allem Anschein nach, ist diese Story des Mädchens im Tunnel ein kurzer Rückblick auf das Erlittene, auf eine Kindheit, oder gar etwas mehr, vielleicht gar ein ganzer Lebensabschnitt, eben wie in einem Tunnel, weswegen sie auch »Tunnel« heißt. Für mich, der schon das Vergnügen hatte, Marielys Flammangs Meisterwerk und Teufelsstück »Mat all Wäiwaaser geseent« (1) zu lesen und zu rezensieren, hatte sie eigentlich ein Parfum von schon Erlebtem. Na ja, sagen wir, schon erlebt bis zu oben erwähntem Wendepunkt, wo eben der Protagonistin eingetrichterte Fügsamkeit und streng beigebrachtes Bravmädchensein in passive Resistenz, wenn nicht gar in Aufsässigkeit mutiert.

Dürften wir dann auf etwas Revolutionäres oder wenigstens Umwerfendes gefasst sein, so etwas wie »im Winde des arabischen Frühlings«, doch luxemburgischer Art? Nein, bestimmt nicht. Es kommt bei der freundlichsten Schriftstellerin unseres Ländchens überhaupt nicht in Frage, dass sie die Leute, das heißt die lieben Leser, vor den Kopf stößt... höchstens, stichprobenartig, ihren Verleger. Diesem dürfte jedoch schon seit oben erwähntem Meisterwerk, doch spätestens heute mit »Wendepunkt« (2) ein dickes und weder erzbischöflich gesegnetes noch Weihwasser gewaschenes Fell gewachsen sein. Gipfelt die Sammlung nicht – auwei! – mit der drittletzten, kürzesten und dramatischsten Geschichte, »Sehnsucht«, in einem beabsichtigten, wenn auch nicht eindeutig ausgeführtem Suizid? Dabei liegt das Tragische an diesen knappen anderthalb Seiten, die niemanden gleichgültig lassen dürften, überhaupt nicht im Außerordentlichen des Geschehens, sondern vielmehr im Gewöhnlichen, ja Normalen des Lebens: sein bitteres Ende.

In einem ganz anderen Register spielt sich die Story bei dem witzigen Kleinod »E-mail von Unbekannt« ab, oder auch bei der völlig surrealistischen Erzählung »Ein Computer für alle Fälle«. Ein spannendes Frauenschicksal und regelrechte kleine Familiensaga zugleich, entdecken wir anderseits mit »Louise II«, das allerdings weitaus mehr als einen Kurztext von vierzehn Seiten verdient hätte. Diese (möglicherweise) imaginäre Biographie erinnert mich übrigens ein wenig an den Erfolg der Hut-Modistin Marie-Thérèse Boyer, Place Vendôme, gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Der Stoff ist jedenfalls sehr reich. Ein Tipp, Marielys: Wie wär’s wenn du aus der kurzen Erzählung einen richtigen Roman machen würdest? Das Argument auszubauen und zu verfeinern wäre für dich eine Kleinigkeit, und den humorvollen, doch dramatikgeladenen Schreibstil auch.

Hier, leicht gekürzt, ein kleiner Auszug aus »Louise II«, in dem unsere Autorin moderne Kindererziehung auf die Schippe nimmt: »Heute gibt es übrigens immer noch keine Fachleute für unerzogene Kinder (...) Heutzutage fallen eher die wohlerzogenen Kinder auf (...) man hütet sich davor, die Kinder mit der negativen Vokabel »unerzogen« zu belegen. Die Kinder sind halt krank oder verhaltensgestört oder selbstmordgefährdet oder hyperaktiv oder sonst was (...) Hauptsache, krank! Hauptsache, nicht die Eltern sind aufgerufen, dagegen anzusteuern, nicht die vom Staat angeheuerten Fachleute für Erziehung, sondern die Ärzte. Die erst vor kurzem neu aufgetauchten Krankheiten haben den Vorteil, dass für das immer häufigere Fehlverhalten der Kinder keiner zuständig ist. Heutzutage sind halt mehr als die Hälfte der Kinder krank. Punkt.«

Doch leider, so in etwa wie, zum Beispiel, bei »Mona, oder ich liebe die Freiheit«, folgt auch in dieser originellen Geschichte, auf einen packenden Anfang und einen mitreißenden Mittelteil, ein eher fahles Ende. Im Allgemeinen lesen sich Marielys Kurzgeschichten äußerst angenehm und bilden eine interessante, hier gedankenfördernde, dort beschauliche Bus-, Bahn oder Zubettgehlektüre. Doch vermisse ich darin zu oft (es gibt einige Ausnahmen) das pikante oder wenigstens überraschende Ende. Man kommt zwar schneller an den Gipfel der Pyramide, doch eben weil dieser die Spitze fehlt. Zugegeben, Marielys Flammang steht unter heutigen Schriftstellern nicht alleine da. Der weitaus größte Teil zeitgenössischer Novellistik leidet unter dem Mangel an nennenswerten Pointen, Zielen, Finalen, so in etwa wie in einem Konzert, wo sich der Komponist etwa im dritten Satz verfangen und weder den vierten Satz noch eine nennenswerte Coda zustande gebracht hätte.

Nichtsdestoweniger habe ich Marielys Flammangs Kurzgeschichtensammlung mit Vergnügen gelesen. Tja, und dass die Autorin es diesmal nicht fertig gebracht hat, mich wie bei ihren öffentlichen Lektüren oder beim Lesen von »Mat all Wäiwaaser geseent« vor lautem Lachen umzuwerfen oder anderswie zu begeistern, liegt vielleicht auch nur daran, dass sie aus mir einen viel zu anspruchsvollen Zuhörer und Leser gemacht hat. Bist also selber daran schuld, liebe Marielys! Und vergiss nicht... als Nächstes erhoffe ich mir einen richtigen Roman. Vielleicht so etwas wie »Louise II, der Roman« ?
Giulio-Enrico Pisani

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1) Mat all Wäiwaaser geseent, 142 S, Édit. Saint Paul 2009. www.zlv.lu/spip/spip.php?article1779

2) Wendepunkt, 150 S, Éditions Saint Paul 2012, 19,90 EUR.