Ausland18. Juli 2023

Für das Leben – für den Frieden

Vor 80 Jahren wurde das Nationalkomitee Freies Deutschland gegründet

von Dr. Michael Polster, Berlin

Im Mai 1989 übergab der Minister für Kultur der DDR, Dr. Hans-Joachim Hoffmann, anläßlich der Tage der Kultur der DDR in der UdSSR eine DEFA-Dokumentation mit dem Titel »Ich, Sohn des deutschen Volkes, schwöre...« für das Museum der deutschen Antifaschisten in Krasnogorsk bei Moskau. In den Filminterviews kamen 13 namhafte deutsche Antifaschisten zu Wort, deren Wirken mit der Gründung im Juli 1943 und der Tätigkeit des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) auf das engste verbunden war, unter ihnen die Gründungsmitglieder Heinz Keßler, Heinrich Homann und Heinrich Graf von Einsiedel. Auf einer Veranstaltung in der Moskauer DDR-Botschaft wurde die Filmdokumentation damals der sowjetischen Öffentlichkeit vorgestellt.

Der Streifen aus dem DEFA-Dokumentarfilmstudio wurde im Auftrag der Ministerien für Kultur der DDR und der UdSSR gedreht. Bisher konnte nach umfangreichen Recherchen nur eine VHS-Kopie gefunden werden, die sich im Krasnogorsker Museum befindet, dessen Gründung 1985 an historischer Stelle erfolgte.

Ausdruck der
Volksfrontpolitik

Am dritten Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, am 22. Juni 1943, wurde ein Vorbereitungskomitee gebildet, dessen Vorsitz der Schriftsteller Erich Weinert übernahm, bevor am 12. und 13. Juli im Krasnogorsker Mechanischen Werk die Gründungskonferenz des Nationalkomitees Freies Deutschland stattfand, an der rund 300 deutsche Kriegsgefangene und kommunistische Emigranten teilnahmen.

Die Idee zur Gründung einer Sammlungsbewegung, in der Kommunisten gemeinsam mit gefangenen nationalbewußten Wehrmachtsoffizieren und Soldaten gegen den Faschismus agieren sollten, war u.a. in der politischen Abteilung der Roten Armee entstanden, politisch aber durch die Volksfrontpolitik der Kommunistischen Internationale (Komintern) in den 30er Jahren vorbereitet worden.

Das galt auch für den im September 1943 durch deutsche Generale gegründeten »Bund Deutscher Offiziere«. Weil sich die höheren deutschen Offiziere der Teilnahme am NKFD zunächst verweigerten, wurde Mitte September 1943 in Lunjowo der Bund ins Leben gerufen. Präsident wurde der General der Artillerie Walther von Seydlitz, der sich gemeinsam mit drei weiteren deutschen Generälen nach Stalingrad zum Kampf gegen Hitler entschlossen hatte.

Aus einem Dokument des Washingtoner Nationalarchivs ist heute bekannt, daß auch Graf Stauffenberg wenige Tage vor dem Attentat vom 20. Juli 1944 gegenüber dem engsten Kreis seiner Mitstreiter erklärte, er stehe in Verbindung mit General von Seydlitz und dem »Freien Deutschlandkomitee« in Moskau.

Stalingrad brachte die Wende

Entscheidend für die Gründung des NKFD war aber die Lage auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges. Die Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad im Februar 1943 hatte die entscheidende Wende gebracht. Mit dem Sieg in der Schlacht am Kursker Bogen im Juli/August 1943 übernahm die Rote Armee zudem die strategische Initiative.

Für die sowjetische Führung war nun der Zusammenschluß aller Hitlergegner von zentraler Bedeutung. Militärisch stand dabei die Eröffnung einer zweiten Front in Westeuropa im Vordergrund. Auf der geheimen Konferenz von Casablanca im Januar 1943 hatten sich aber USA-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill darauf geeinigt, sie auf 1944 zu verschieben. Josef Stalin kritisierte das entsprechend scharf, sah aber, daß die Sowjetunion wie schon 1939 vor der Frage stand: Wie kann eine Atempause gewonnen werden? Wie können neue Verbündete unter den gegnerischen Kräften gefunden werden? Nach allem, was heute bekannt ist, ging die Initiative zur Gründung des NKFD von Stalin persönlich aus.

Nach dem Beschluß der Kommunistischen Internationale zur Auflösung am 15. Mai 1943, der zum 10. Juni wirksam wurde, begannen sowjetische Organe damit, binnen weniger Wochen das NKFD ins Leben zu rufen. Das waren insbesondere die 7. Abteilung der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee sowie die Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) der UdSSR.

Ab August 1943 war das NKFD dann in einem ehemaligen Erholungsheim der sowjetischen Eisenbahnergewerkschaft im kleinen Sonderlager Lunjowo untergebracht. Parallel wurde in Moskau im sogenannten Institut Nr. 99 ein Nationalkomitee eingerichtet, das unter den deutschen Kriegsgefangenen »Stadtkomitee« hieß.

Die NKFD-Gründung wäre ohne den Sieg in Stalingrad und den Kriegsverlauf nicht möglich gewesen. Stalingrad hatte der antifaschistischen Bewegung in den Kriegsgefangenenlagern und den in der Emigration wirkenden antifaschistischen und kommunistischen Widerstandskräften enormen Auftrieb gegeben. Zum einen stieg die Anzahl der deutschen Kriegsgefangenen sprunghaft an, zudem war den deutschen Soldaten in Stalingrad vor Augen geführt worden, daß sie von der Führung Nazideutschlands keinerlei Unterstützung zu erwarten hatten.

»Man nannte sie
Verräter«

Daran erinnerte auch das DDR-Fernsehen, das am 26. Juli 1989 die Dokumentation »Man nannte sie Verräter« der Chronos-Film GmbH Berlin (West) ausstrahlte. Der Film untersucht die Motive derer, die 1943 in der Sowjetunion für die Bildung eines breiten Bündnisses gegen Faschismus und Krieg eingetreten waren.

Historische Dokumente wechselten dabei mit Interviews. Zeitzeugen, wie die Gründungsmitglieder des NKFD, Bernt von Kügelgen (DDR) und Heinrich Graf von Einsiedel (BRD), erinnerten sich. Auf den Vorwurf reaktionärer Kreise in der BRD, die NKFD-Mitglieder seien Verräter gewesen, antwortete im Film Bernt von Kügelgen: »Sie waren Patrioten, und die Geschichte hat ihnen recht gegeben.«

Das NKFD gab die Wochenzeitung »Freies Deutschland«, eine Illustrierte gleichen Namens und zahlreiche zentrale Flugblätter heraus. Es betrieb den Radiosender »Freies Deutschland« und setzte Lautsprecherwagen an den Fronten ein. Hier erhoben unter anderen die Funktionäre der KPD Wilhelm Pieck, Wilhelm Florin, Walter Ulbricht und Anton Ackermann, die Schriftsteller Willi Bredel, Johannes R. Becher, Erich Weinert, Friedrich Wolf und Gustav von Wangenheim, die Generale Otto Korfes, Martin Lattmann, Vincenz Müller, Rudolf Bamler, Walther von Seydlitz und Friedrich Paulus ihre Stimme. Zu den Aktiven gehörten die Offiziere Heinrich Homann, Luitpold Steidle, Bernhard Bechler, Herbert Stößlein, Karl Hetz, Graf von Einsiedel und Jesco von Puttkammer, die Soldaten Max Emmendörfer, Hans Goßens und Leonhard Helmschrott und auch die katholischen Geistlichen Kayser, Ludwig und Mohr sowie die evangelischen Pfarrer Schröder, Sönnichsen und Oberkonsistorialrat Dr. Krummacher.

Der bei der Gründung des NKFD zum Leitmotiv erhobene Grundsatz »Für das Leben – für den Frieden« hat bis zum heutigen Tage nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Die DDR integrierte in den 50er Jahren zunehmend das NKFD in die offizielle Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand. Ein Ausdruck dessen war nicht zuletzt die Gründung der heute fast unbekannten »Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere« (AeO) im Januar 1958, die sich in ihrer Öffentlichkeitsarbeit vor allem der Kritik an der Militärpolitik der BRD widmen sollte. In einer Beschlußvorlage des Politbüros der SED vom Februar 1957 war zudem als Aufgabe festgelegt worden, »auf die ehemaligen Offiziere in Westdeutschland, insbesondere auf die Offiziere der Bundesarmee einzuwirken«. Dazu gab die AeO gab ein Mitteilungsblatt heraus, das in beiden deutschen Staaten verbreitet wurde. 1971 wurde es wieder eingestellt.

1984 regte Erich Honecker an, anläßlich des 40. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus ein Museum deutscher Antifaschisten in Krasnogorsk zu errichten. Das Museum ist heute eine Abteilung des »Zentralmuseums des Großen Vaterländischen Krieges« in Moskau. Im Frühjahr diesen Jahres wurde eine Ausstellung über die »Zentrale Antifaschistische Schule 1943 bis 1949« eröffnet, die dem 80. Jahrestag dieser Schule gewidmet ist. Ein rekonstruiertes Klassenzimmer aus der Zeit, Fotografien und seltene Dokumente sind Zeugnisse der Ereignisse, die vor 80 Jahren hier stattfanden. Präsentiert werden auch seltene Fotografien aus der Eröffnung des Gedenkmuseums deutscher Antifaschisten im Jahr 1985.

Ende 1943 veröffentlichte auch das Lateinamerikanische Komitee Freies Deutschland eine Publikation »Deutsche, wohin?« mit allen Reden und Erklärungen von den Gründungsversammlungen des NKFD und des Bundes Deutscher Offiziere. Einleitend schrieb Paul Merker: Das NKFD werde »von kommenden Generationen als das Morgengrauen der Freiheit verherrlicht werden, das auf die schwärzeste Nacht nazistischer Knechtschaft und Schande folgte, in die Deutschland versunken war«.