Ausland16. September 2022

Einstimmung auf einen »schwierigen Winter«

Strom- und Gastarife werden 2023 »nur« um 15 Prozent steigen. Almosen für arme Familien

von Ralf Klingsieck, Paris

Die gegenwärtige Deckelung der Energietarife für die französischen Haushalte, die dadurch zu den vergleichsweise niedrigsten in der Europäischen Union gehören, wird Ende des Jahres auslaufen. Sie wird aber ab Anfang 2023 durch neue Maßnahme ersetzt, durch die gesichert werden soll, daß die Energiepreisexplosion auf dem Markt nicht vollständig bis zu den Haushalten durchschlägt. Das kündigte Premierministerin Elisabeth Borne auf einer Pressekonferenz am Mittwoch in Paris an.

Unvermeidbar sei allerdings eine Preiserhöhung für die privaten Haushalte ab Januar 2023 für Gas und ab Februar auch für Strom um jeweils 15 Prozent. Ohne die Mittel, die die Regierung zur Tarifeingrenzung einsetzt und die sich allein für das kommende Jahr auf 45 Milliarden Euro summieren, müßten die Haushalte 120 Prozent mehr zahlen als heute. Auf Haushalte, die mit Gas heizen, kommen damit im Schnitt Mehrkosten von etwa 25 Euro pro Monat zu, während es bei denen mit Elektroheizung 20 Euro mehr sind. Wer mit Öl oder Holz heizt, muß den vollen Tarif zahlen, hier gibt es keine Beihilfen.

Zur Unterstützung erhalten die 12 Millionen Familien, die unter der Armutsgrenze leben, zum Jahresende einen Scheck über – je nach Einkommen – 100 oder 200 Euro. Das summiert sich für den Staat auf 1,8 Milliarden Euro. Eine solche einmalige »Sonderhilfe« haben diese Haushalte zuletzt im vergangenen April bekommen.

Im laufenden Jahr sind dank der zur Deckelung eingesetzten öffentlichen Mittel die Strompreise im Schnitt nur um vier Prozent und die Gastarife um neun Prozent geklettert. »Eine Tariferhöhung um 15 Prozent sieht auf den ersten Blick vergleichsweise bescheiden aus«, meint Jean-Yves Mano, der Präsident des Konsumentenverbandes CLCV. »Für viele Familien mit geringem Einkommen ist es aber ein großes Problem, 200 bis 300 Euro pro Jahr mehr zahlen zu müssen. Die Regierung muß hier unbedingt mehr tun.«

Die Regierungschefin stimmt die Franzosen auf einen »schwierigen Winter« ein, gibt sich allerdings zuversichtlich, daß es zu keinen »ernsten Versorgungsengpässen« kommen wird. Für Privathaushalte werde Gas schon aus sicherheitstechnischen Gründen auf keinen Fall abgeschaltet und Stromsperren sollen möglichst vermieden oder auf ein Minimum begrenzt werden. Viel werde davon abhängen, ob die Bürger »verantwortungsvoll handeln« und ihren Energiebedarf möglichst um zehn Prozent senken.

So sollte die Temperatur in den Wohnungen auf 19 Grad gedrosselt, unbenutzte Elektrogeräte sollen komplett ausgeschaltet und beispielsweise Waschmaschinen außerhalb der Hauptbedarfszeiten betrieben werden. Alle öffentlichen Behörden und Einrichtungen werden verpflichtet, die Raumtemperatur auf 19 Grad zu begrenzen und so weit als möglich Licht und damit Strom zu sparen.

Die größten Einsparmöglichkeiten sieht die Regierung in der Wirtschaft. Das staatliche Stromverteilungsunternehmen RTE schätzt, daß die Betriebe bei einem »milden« Winter, wie er in Frankreich häufig ist, zwischen 1,5 und fünf Prozent Energie einsparen müssen und bei einem »strengen« Winter bis zu 15 Prozent. RTE sichert zu, daß Warnungen der Öffentlichkeit und der Wirtschaft drei Tage vor erwarteten Verbrauchsspitzen erfolgen werden, so daß sich jedermann darauf einstellen kann. Dadurch können dann beispielsweise eine Reihe öffentlicher Einrichtungen wie Schwimmbäder und Sporthallen zeitweise geschlossen und in anderen die Heizung in Vorhallen, Korridoren und Lagerräumen ganz abgeschaltet werden.

Betriebe mit besonders hohem Energieverbrauch beispielsweise in der Glasindustrie oder der Metallurgie planen bereits selbst oder werden nicht umhin können, zeitweise ganze Fertigungslinien abzuschalten und die dort eingesetzten Mitarbeiter in technisch bedingte Zeitarbeitslosigkeit zu schicken.

Die Mittel zur Begrenzung der Energietarife kommen nicht zuletzt von den Erzeugern der billig aus Wind, Sonne, Wasserkraft und Atom gewonnenen und auf dem Markt teuer verkauften Energie, welche die Preisdifferenz an den Staat abführen müssen. Zu dieser Ausgleichszahlung mußten sich die Energiebetriebe schon vor Jahren verpflichten, denn das war der Preis für Konzessionen und günstige staatliche Kredite.

Premierministerin Borne versichert, daß Frankreich zur »europäischen Solidarität« bei der Energieversorgung steht und beispielsweise im kommenden Winter in größerem Umfang Elektroenergie nach Deutschland exportieren wird. Dieses Bekenntnis steht allerdings im Widerspruch zu jüngsten Berichten, wonach Frankreich die Versorgung Deutschlands durch Gas aus Spanien behindert. Anders als Deutschland verfügt Spanien über zahlreiche Hafenterminals für importiertes Flüssiggas mit Anlagen, wo es wieder in gasförmigen Zustand versetzt und in Pipelines eingespeist wird. Da diese Kapazitäten bei weitem den eigenen Bedarf überschreiten, soll ein Teil nach Deutschland exportiert werden, doch es fehlt an ausreichend großen Rohrleitungen.

Von dem seit 2013 geplanten Bau einer »Midcat« genannten großdimensionalen Pipeline von Barcelona über die Pyrenäen und weiter nach Norden, der in weniger als einem Jahr umzusetzen wäre und der die Kapazität des Gastransports verfünffachen würde, trat die französische Seite allerdings 2019 zurück und begründete das mit »mangelnder Rentabilität« und Umweltbedenken. Auch angesichts der Reduzierung und dem von der EU angestrebten Wegfall der Gaslieferungen aus Rußland hält Paris an dem Veto fest. In Spanien vermutet man, daß die französische Regierung durch das spanische Gas eine Preissenkung auf dem europäischen Energiemarkt zum Nachteil der preisgünstig erzeugten französischen Atomenergie befürchtet. Jetzt erwägt man in Madrid, eine – wesentlich teurere – Pipeline durchs Meer nach Italien zu bauen und das Gas von dort aus weiter nach Norden zu leiten.