Leitartikel15. Januar 2022

»Wahrheiten« aus den Archiven des Kalten Krieges

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Angesichts der aktuellen Entwicklungen kann nicht oft genug vor der Gefahr eines neuen Krieges gewarnt werden – und darauf hingewiesen werden, von wem und von wo diese Gefahr tatsächlich ausgeht.

Immer noch hält sich die Legende, das russische Militär bereite sich auf eine »Invasion in der Ukraine« vor. Weiter kreisen die Zahlen von 100.000 russischen Soldaten durch die Medien, die angeblich an der Grenze der Ukraine auf einen Angriffsbefehl aus dem Kreml lauern. Reguläre Militärmanöver der russischen Armee werden zu Angriffsvorbereitungen umgedichtet, selbst wenn aus Moskau erklärt wurde, daß diese Manöver für die Zeit der Gespräche mit NATO, EU und OSZE ausgesetzt wurden.

Wenn solche Manöver Angriffsvorbereitungen sein sollen, was sind dann die zahllosen Manöver der NATO wie »Defender«, deren Bewegungen eindeutig und sogar erklärtermaßen in Richtung der russischen Grenzen zielen? Was bedeuten die aus allen Mitgliedstaaten zusammengesetzten Truppenteile, die in der Nähe der russischen Grenzen ihre Positionen ausbauen und permanent Manöver abhalten? An welchen Grenzen von NATO-Ländern hat eigentlich Rußland Truppen im Ausland stationiert?

Rußland hat den USA und der NATO eindeutig formulierte Vorschläge für eine Deeskalation unterbreitet. Der Kern dieser Vorschläge bezieht sich auf eine Beendigung der Osterweiterung der NATO – in Richtung Rußland! – und den Verzicht auf eine Stationierung von Raketensystemen in den östlichen NATO-Ländern. Das wurde von den USA und der NATO brüsk abgelehnt, bevor die eigentlichen Gespräche begonnen hatten. Worin besteht der Sinn von Verhandlungen, wenn zuvor öffentlich erklärt wird, der eigentliche Verhandlungsgegenstand stehe nicht zur Disposition?

Angesichts der Sturheit seitens der NATO erklärt Rußland seinerseits, man müsse über entsprechende Maßnahmen zur eigenen Sicherheit nachdenken. Nach dem erfolglosen NATO-Rußland-Rat wurde dem russischen Vizeaußenminister Rjabkow von einem privaten russischen TV-Sender die absurde Frage gestellt, ob auch eine Stationierung von russischen Truppen auf Kuba oder in Venezuela in Frage komme. Die Antwort des ranghohen Diplomaten zitierte die Deutsche Presseagentur (dpa) wie folgt: »Ich möchte weder etwas bestätigen noch ausschließen.« Und: »Alles hängt von den Handlungen der amerikanischen Kollegen ab.« Die deutsche Agentur verbreitet dann diese Meldung unter der Überschrift: »Russland droht USA mit Militär auf Kuba und in Venezuela«. Noch dreister kann man die Wahrheit kaum verbiegen!

Vor den Gesprächen zwischen den Abgesandten der USA und Rußlands wurden vor allem aus Berlin immer wieder Forderungen laut, daß »Europa« in die Verhandlungen einbezogen werden müsse. Es könne »keine Entscheidung über Sicherheit in Europa ohne Europa« geben, sagte die grüne Möchtegern-Außenministerin bei ihrem Treffen mit USA-Außenminister Blinken. Weiß man im Auswärtigen Amt wirklich nicht, daß Rußland ebenso zu Europa gehört wie Deutschland, Polen oder Spanien?

Ja, über die Sicherheit in Europa muß gesprochen werden, und nach Lage der Dinge spielen die USA – die im Gegensatz zu Rußland Tausende Soldaten in europäischen Ländern stationiert haben, dort Stützpunkten unterhalten und Atombomben in Deutschland, den Niederlanden und Belgien lagern – dabei eine Rolle. Allerdings muß bei Verhandlungen auch wirklich verhandelt werden. Dabei geht es um Tatsachen, nicht um recycelte Behauptungen aus den finstersten Archiven des Kalten Krieges.