Libysche Unruhen lösen in der Ölindustrie Besorgnis aus
Plünderungen auf Ölfeldern Widersprüchliche Informationen über Fördermenge
Vor dem Hintergrund der Proteste gegen Machthaber Muammar al Gaddafi ist in der libyschen Ölindustrie Chaos ausgebrochen. Bewaffnete plündern auf den Ölfeldern Ausrüstungsgegenstände, britische Truppen bringen in geheimen Kommandoaktionen Ölarbeiter aus der Wüste in Sicherheit, und libysche Hafenarbeiter erscheinen aus Furcht vor gewaltsamen Übergriffen nicht zur Arbeit.
Leere Tanker warten im Mittelmeer darauf, anlegen zu können und Öl aufzunehmen. Europäische Ölfirmen, die in Libyen tätig sind, versuchen, ihre ausländischen Beschäftigten aus dem Land zu holen. Wie viel Öl überhaupt noch gefördert wird, darüber gibt es widersprüchliche Informationen. Und ob sich die Lage in naher Zukunft beruhigt, ist längst nicht sicher.
Niemand weiß, ob die Anhänger Gaddafis oder die Aufständischen künftig die Kontrolle über die größten Ölfelder Afrikas haben werden. Es besteht die Sorge, daß das Land zerfallen könnte und rivalisierende Gruppen die Vormacht über die verschiedenen Ölfelder in der Wüste erlangen könnten. Trotz einer Zusage Saudi-Arabiens, seine Exporte zu erhöhen, sind die Preise an den internationalen Rohölmärkten in der vergangenen Woche deutlich gestiegen. Und die Unsicherheit dürfte anhalten.
Ein Faktor dabei ist, daß niemand die Lage genau einschätzen kann. Die Internationale Energieagentur (IEA) erklärte am Freitagabend, Libyen fördere noch immer etwa 850.000 Barrel täglich – normal wären 1,6 Millionen Barrel. Die IEA räumte aber ein, daß diese Schätzung auf »unvollständigen, widersprüchlichen Informationen« beruhe.
Libyen trägt nur zwei Prozent zum weltweit geförderten Öl bei, seine Kunden sind überwiegend EU-Staaten wie Italien, Frankreich, Deutschland und Spanien. Aus Furcht vor Versorgungsengpässen kündigte Madrid am Freitag bereits eine Absenkung der Höchstgeschwindigkeit auf Fernstraßen ab März an. Das größte Problem der Ölfirmen und europäischen Kunden ist dabei das fast völlige Fehlen verläßlicher Informationen. Die Telefonverbindungen in Libyen funktionieren selten, das Internet ist häufig unterbrochen, Arbeiter sind auf der Flucht, und Plünderer stellen eine Sicherheitsgefahr dar, bis die Ordnung wieder hergestellt ist.
Mit britischen Militärflugzeuge wurden am Samstag 150 Ölarbeiter aus der Wüste geholt, Hunderte weitere machten sich in Buskonvois durch die Sahara auf den Weg zur ägyptischen Grenze, der 24 Stunden und mehr dauern kann. Der spanische Ölkonzern Repsol-YPF gab am Dienstag die Aussetzung seiner Förderung in Libyen bekannt. Einen Tag später stellte das Unternehmen fest, daß auf den Ölfeldern, die es gemeinsam mit anderen Firmen betreibt, täglich noch 160.000 Barrel gefördert werden, weniger als die Hälfte als vor Ausbruch der Krise.
Auf den Ölfeldern von Amal – wo Libyer unter Gaddafi zuvor niemals Zutritt erhalten hatten – tauchten Bewaffnete auf und nahmen mit, was sie greifen konnten : Geländewagen, Pumpen, Generatoren. Eine Gruppe sei sogar mit einem Anhänger gekommen und habe versucht, einen großen Kran zu entfernen, sagt Gavin de Salis, Vorsitzender des britischen Öldienstleisters OPS. »Niemand hat auf jemanden geschossen« , sagt De Salis. »Aber die Leute liefen mit Waffen herum und sagten ,Danke, wir nehmen euer Fahrzeug, ihr haut ja ohnehin ab’.«
Und obwohl die Produktion nicht völlig zum Erliegen gekommen zu sein scheint, gelangt das Öl nicht aus dem Land. Die 520 Kilometer lange Erdgaspipeline im Mittelmeer von Libyen nach Sizilien ist seit einer Woche geschlossen. Wann sie wieder geöffnet wird, ist laut ihrem Besitzer, dem italienischen Konzern Eni, unklar. »Die meisten libyschen Häfen sind wegen schlechten Wetters, Arbeitermangel oder Produktionsausfällen geschlossen« , erklärt die IEA. Tanker, die Öl nach Europa liefern, warten in mehr als 160 Kilometern Entfernung vor der Küste auf weitere Anweisungen.
Die großen Konzerne halten sich mit Aussagen zur politischen Lage zurück, denn sie wollen Öl fördern, egal, wer letztlich in Libyen die Oberhand behält. Schlimmstenfalls könne es vier bis sechs Monate dauern, bis sich die Lage im Land wieder beruhigt, sagt Mohammed El-Katiri, Nahostexperte der Consultinggruppe Eurasia Group. Wann die ausländischen Ölarbeiter wieder zurückkehren, ist unklar. Verlassene Ölfelder stellen aber noch ein weiteres Sicherheitsproblem dar : In Nigeria etwa bohren verarmte Dorfbewohner oder Aufständische Pipelines an, um an Öl zu gelangen. Dabei kommt es häufig zu folgenschweren Bränden, bei denen zahlreiche Menschen ums Leben kommen und Pipelines zerstört werden.
Die einzige Hoffnung besteht wohl darin, daß Experten glauben, daß sowohl Gaddafi als auch die Aufständischen ein großes Interesse daran haben, die Ölproduktion so schnell wie möglich wieder aufzunehmen. »Gaddafi hilft das Geld, weil er damit seine Milizen und Söldner weiter zahlen kann« , sagt El-Katiri. Die Aufständischen dagegen wollten westliche Regierungen, die von libyschem Öl abhängen, nicht vor den Kopf stoßen. Und auch sie brauchten Geld, um »Angriffen seitens Gaddafi widerstehen« zu können.
Alan Clendenning, Korrespondent der Nachrichtenagentur AP in Madrid