Ausland03. August 2022

Frankreich wappnet sich gegen Energiekrise

Regierung setzt auf sparsamen Verbrauch und Atomkraft

von Ralf Klingsieck, Paris

Während im Juli die Inflationsrate für die letzten zwölf Monate nicht zuletzt durch die Energiepreisexplosion auf 6,1 Prozent geklettert ist, vermeldeten der Ölkonzern Total und der Gaskonzern Engie für das erste Halbjahr Rekordgewinne von mehr als zehn und von rund fünf Milliarden Euro. Das hat der Polemik um die Forderung der linken Opposition, spekulative Superprofite mit einer Sondersteuer zu belegen, neu belebt. Die dem Bündnis Nupes angehörenden Parteien verweisen dabei auf Italien und Britannien, wo die Energiekonzerne 25 Prozent dieser Extraprofite abführen müssen.

In der französische Regierung konnte sich bisher der von Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire angeführte rechtsliberale Flügel durchsetzen, der eine solche Sondersteuer ablehnt, obwohl beispielsweise Verkehrsminister Clément Beaune eine solche Sondersteuer für durchaus sinnvoll hält. Um sie abzuwenden, hat der Wirtschaftsminister die Großunternehmen des Landes aufgefordert, freiwillig »Gesten« zugunsten der Kaufkraft der Haushalte zu machen. Einige Unternehmen sind zu der Erkenntnis gelangt, daß eine derartige »Geste« durchaus in ihrem eigenen Interesse liegt. So drosselt beispielsweise Total die Treibstoffpreise für die Endverbraucher bis November um 20 Cent und dann bis zum Jahresende um 10 Cent, und Engie gewährt den einkommensschwächsten Haushalten einen Nachlaß von 100 Euro auf die Jahresrechnung.

Das Gesetz zur Stützung der Kaufkraft der Haushalte, das in den nächsten Tagen vom Parlament verabschiedet werden und dann sofort in Kraft treten soll, enthält auch konkrete Maßnahmen zur Abwendung der Energiekrise, die durch den Krieg in der Ukraine und den damit verbundenen Boykott von Importen aus Rußland sowie die nachfolgende Verknappung und Preisexplosion für Energie und für Rohstoffe jeder Art auf dem Weltmarkt weiter verschärft wurde. So behält sich die Regierung das Recht vor, wie beim Kriegszustand private Kohle- und Gaskraftwerke in öffentlichem Interesse dem Staat zu unterstellen. Mit dieser Maßnahme sollen die gerade erst stillgelegten letzten vier Kohlekraftwerke vorübergehend wieder in Betrieb genommen werden, beginnend im Herbst mit dem im lothringischen Saint-Avold, wo die meisten der im März entlassenen Mitarbeiter bereits ihren auf zunächst auf ein Jahr befristeten Zeitvertrag erhalten haben. Bei dem rund einem Dutzend Gaskraftwerke soll die Stromerzeugung zentralstaatlich gesteuert werden, mit mehr Produktion bei Bedarfsspitzen und Drosselung »in ruhigen Zeiten«, um so Gas zu sparen.

Frankreich, das bislang für 17 Prozent seines Gasbedarfs auf Importe aus Rußland angewiesen war, will dieses Manko durch Mehrimporte von Flüssiggas über die fünf vorhandenen Terminals ausgleichen. Doch traditionelle Lieferländer wie Algerien oder Norwegen sind bereits an der Grenze ihrer Kapazitäten angekommen. Daher muß man jetzt politisch »Kröten schlucken«, wenn es darum geht, extrem umweltschädliches Schiefergas aus den USA zu beziehen oder – wie es Präsident Emmanuel Macron dieser Tage bei einem Paris-Besuch des saudi-arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman getan hat –, den Repräsentanten eines Regimes hofieren, das 2018 wegen des Mordes an dem oppositionellen Journalisten Jamal Khashoggi angeprangert und boykottiert wurde.

Doch vor allem setzt die französische Regierung auf Kernkraft, mit der heute zwei Drittel bis drei Viertel der Elektroenergie erzeugt werden. Problematisch ist allerdings, daß zur Zeit von den 56 Kernreaktoren fast die Hälfte abgeschaltet sind, weil durch die Corona-Pandemie viele routinemäßige Wartungsarbeiten aufgeschoben wurden und sich jetzt angehäuft haben, und weil sich das Alter des Reaktorenparks durch zahlreiche technische Pannen bemerkbar macht.

Zur Zeit wird mit Hochdruck daran gearbeitet, daß im Herbst zumindest wieder drei Viertel aller Reaktoren arbeiten. Die von Präsident Macron angekündigten sechs neuen Druckwasserreaktoren liegen noch weit in der Zukunft. Frankreichs bislang einziger Druckwasserreaktor in Flamanville ist nach heute 15 Jahren Bauzeit immer noch nicht fertig, während fünf Jahre plant waren, und verschlang bisher schon 12,7 Milliarden Euro, während »nur« 3,3 Milliarden vorgesehen waren. All das ist maßgeblich verantwortlich dafür, daß der Stromkonzern EDF Schulden in Höhe von 44 Milliarden Euro aufweist, was die Regierung bewogen hat, zum Zweck der Sanierung die Re-Nationalisierung des heute noch zu 84 Prozent staatseigenen Konzerns zu beschließen. Der Aufkauf der breit gestreuten restlichen Anteile hat vor Tagen begonnen und dürfte den Staat – und damit die Steuerzahler – mindestens fünf Milliarden Euro kosten.

Wirtschaftsminister Bruno Le Maire hat bereits angekündigt, daß die Regierung bei Energieengpässen und um Stromsperren für die Haushalte zu vermeiden, einzelne Großunternehmen auffordern wird, zeitweise Anlagen mit besonders hohem Stromverbrauch abzuschalten. Dafür sollen sie finanziell entschädigt werden.

Für die privaten Haushalte soll die Strompreiserhöhung 2022 durch staatliches Eingreifen auf 4 Prozent begrenzt werden, obwohl der Großhandelspreis explodiert ist, von 81 Euro pro Megawattstunde Anfang des Jahres auf heute 530 Euro. Ob und wie das 2023 bis auf den Endverbrauchertarif durchschlagen wird, ist noch nicht entschieden. Für den Fall einer empfindlich hohen Preissteigerung erwägt die Regierung, den einkommensschwächsten Haushalten eine einmalige finanzielle Hilfe von 100 Euro zu zahlen.

Bei ihren Bemühungen, eine Energiekrise abzuwenden, setzt die Regierung aber auch auf das Verständnis der Masse der Franzosen und appelliert an ihre »Vernunft«. Sie plant keine verbindlichen Energiesparvorschriften, sondern geht davon aus, daß durch freiwillige Sparmaßnahmen mindestens zehn Prozent des bisherigen Energiebedarfs eingespart werden können. Das reicht von der Drosselung der Heizungen und Klimaanlagen über das nächtliche Abschalten der Beleuchtung von Büros, Schaufenstern und Werbetafeln bis zum Verzicht auf den Stand-By-Modus elektronischer Technik im Haushalt.

Doch die Zusage des Regierungssprechers Olivier Véran, daß die Ministerien mit gutem Beispiel vorangehen werden, wurde zum Rohrkrepierer, nachdem durch aufmerksame Journalisten bekannt wurde, daß in der vergangenen Woche während der letzten Ministerratssitzung vor der Sommerpause, auf der es auch ums Energiesparen ging, im Hof des Elysée die Motoren der leeren Ministerautos liefen, um die Klimaanlagen in Betrieb zu halten.