Ausland23. April 2021

»NO TAV«-Bewegung gibt nicht auf

Umweltaktivistin bei Protesten gegen Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon von Polizei schwer verletzt

von Gerhard Feldbauer

Bei Protesten gegen den Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon – Treno Alta Velocità (TAV) – ist am vergangenen Samstag laut Medienberichten bei dem brutalen Einsatz der Polizei, die mit Wasserwerfern und Tränengas vorging, die 38-jährige Umweltaktivistin Giovanna Lauriola schwer verletzt worden. Während sie versuchte, sich mit einer Gruppe, die mit einem »wahren Gewehrfeuer aus Tränengas überschüttet wurde, im Wald in Sicherheit zu bringen«, wurde sie von einem Tränengaskanister getroffen und erlitt an den Wangenknochen, Nase und unter der Augenhöhle schwere Verletzungen. Sie wurde in die Molinette-Klinik in Turin eingeliefert, wo Polizisten trotz des wegen der Corona-Pandemie erlassenen Verbots eindrangen, um sie zu verhören, berichtete die online Plattform »Kommunistisches Netzwerk Toscana«.

Laut Berichten der staatlichen Nachrichtenagentur ANSA hatten NO-TAV-Aktivisten auf der Autobahn A32 Turin-Bardonecchia bei San Didero im Susatal Papierbomben, Feuerwerkskörper und Steine auf den Bau eines Parkhauses geworfen. Auf dem Dach des Gebäudes hatten sich Protestierende angekettet. An den Protesten nahmen nach Angaben der Veranstalter über 3.000 Personen teil.

Die Polizei erklärte, die Frau habe angegeben, sie sei von einem schweren Gegenstand getroffen worden, was die Vertreter der No-TAV-Bewegung laut einem Bericht des linken »Manifesto« auf einer Pressekonferenz am Montag in San Didero zurückwiesen und das Vorgehen der Polizei scharf verurteilten. Die Polizei versuche, »von ihrer Verantwortung bei der Verletzung von Giovanna abzulenken«. Diese »Tränengasstreuung auf Augenhöhe« sei »Absicht, um die No TAV-Militanten in Angst zu versetzen und Massenansammlungen auseinanderzujagen«, hieß es in der Erklärung. Sie verwiesen darauf, daß sie seit Jahren einer anhaltenden Repression ausgesetzt sind. Giovanna Lauriola, eine langjährige No Tav-Aktivistin, stehe dabei seit Jahren im Visier der Verfolger. 2012 war sie eine von 37 Aktivisten, die vor Gericht gezerrt, zu Haftstrafen und hohen Geldbußen verurteilt wurden. Giovanna wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, mußte aber in der Revision freigesprochen werden. 2019 wurde sie erneut verhaftet.

Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur ADN-Kronos vom Mittwoch hat die Polizei den No-TAV-Stützpunkt auf der Baustelle des Autoport in der Nacht mit einem großen Aufgebot mit gepanzerten und weiteren Fahrzeugen geräumt. Dabei habe es erneut Verletzte gegeben. Die Militanten riefen in Sprechchören »Wir sind hier und wir werden hier bleiben. Val di Susa gehört uns und wir werden es verteidigen«. Laut Berichten der Regionalpresse haben sie zu neuen Protesten aufgerufen haben.

Mit den jüngsten Protesten rückt der Widerstand gegen den wegen der Umweltverschmutzung und mit geplanten 26 Milliarden Euro sehr teuren Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Italien und Frankreich (wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Bei dem Projekt, das auch als italienisches »Stuttgart 21« bezeichnet wird, geht es um eine 270,8 Kilometer lange Trasse, die Teil der geplanten europäischen Bahnverbindung von Spanien bis nach Budapest sein soll. 140 Kilometer davon führen durch Frankreich, 46,7 durch Italien. Dazwischen liegt ein 84,1 Kilometer langer internationaler Abschnitt, dessen Kern der 57,5 Kilometer lange Mont-Cenis-Basistunnel ist. Vor allem dieser wird sowohl wegen hoher Kosten als auch der enormen Umweltrisiken kritisiert. Der Tunnel, so »No TAV«, zerstöre die Natur der Region, da der Berg mit giftigen Mineralien durchsetzt sei und weißen Phosphor enthalten soll.

Befürworter des Projekts machen hingegen geltend, daß die bestehende, über 145 Jahre alte Strecke den modernen Verkehrsanforderungen nicht mehr gerecht werde. Auf der neuen Hochgeschwindigkeitstrasse würden Personenzüge den Mont-Cenis-Tunnel mit einer Geschwindigkeit von bis zu 240 Kilometern pro Stunde passieren, was die Transitzeit von bisher 3,5 auf 1,47 Stunden reduziere. Die Neubaustrecke nehme ferner auch den Güterverkehr auf, der zwischen Frankreich und Italien derzeit zu drei Vierteln über die Straße abgewickelt wird. Das führe zu einer Reduzierung der Treibhausgase. Medienberichte verwiesen darauf, daß das Projekt auch den strategischen Interessen der USA und der NATO dient, aus Frankreich und Portugal über diese Strecke rasch Truppen in Richtung der Grenze zu Rußland zu verlegen. Das »Netzwerk Toskana« nannte das Projekt »nutzlos und schädlich für die Menschen, die Natur und die Wirtschaft des Landes«.

Unter dem wachsenden Druck der EU haben alle italienischen Regierungen von extrem rechts unter Berlusconi bis Mitte-links dem seit Ende der 90er Jahre geplanten Projekt zugestimmt. 2019 gab Premier Giuseppe Conte seine Zustimmung für den Baubeginn – unter dem Druck der faschistischen Lega. Deren Klientel, die Großunternehmer Norditaliens, verlangten eine bessere Verkehrsanbindung vor allem nach Frankreich. Natürlich wird der Bau auch von der jetzigen Regierung unter Ex-EZB-Chef Mario Draghi fortgesetzt.

Die Bewegung, die sich seit Bekanntwerden der Pläne formierte, gilt heute als eine starke links orientierte Bewegung. Ihr gehören Menschen unterschiedlichster weltanschaulicher und politischer Ansichten an: Männer, Frauen und Jugendliche, Umweltschützer, Sozialarbeiter, Gewerkschafter, Christdemokraten wie auch Kommunisten, linke Demokraten und Personen ohne eine Parteianbindung.