Eine »neue Stufe«
EU mit veränderter Vertragsgrundlage
Mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags am 1. Dezember 2009 wird ein neuer Abschnitt in der Entwicklung der EU eingeleitet. Jedenfalls ist das die Absicht der maßgeblichen Führungskreise in Brüssel und in den wichtigsten Mitgliedstaaten, allen voran der BRD und Frankreichs.
Schon in der Präambel des neuen Vertrags heißt es, daß damit der Prozeß der »europäischen Integration« auf eine »neue Stufe« gehoben und »feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europa« geschaffen werden sollen. In Artikel 1 wird es noch einmal wiederholt: »Dieser Vertrag stellt eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar«.
Mit den Völkern hat es allerdings weniger zu tun. Volksabstimmungen über den neuen EU-Vertrag waren in allen Mitgliedstaaten außer Irland verhindert worden. Und in Irland hatte die Mehrheit in der ersten Abstimmung »Nein« gesagt, wie zuvor schon in Frankreich und den Niederlanden. Erst mit massiven Drohungen wirtschaftlicher Isolierung und irreführenden Scheinzugeständnissen wurde in der zweiten Abstimmung das gewünschte Ergebnis erreicht. Von einer von den Völkern beschlossenen Union kann keine Rede sein.
Die »neue Stufe«, die mit dem Lissabon-Vertrag beabsichtigt ist, tritt deutlicher hervor, wenn man sich daran erinnert, daß dieser Vertrag ursprünglich ein »Verfassungsvertrag« sein sollte. Die Bezeichnung »Verfassung« sollte die qualitativ neue, über den Maastricht-Vertrag von 1993 hinausgehende »Integration« der EU-Staaten verdeutlichen. Dazu gehörten auch Staatssymbole wie Flagge und Hymne der EU.
Auf den Begriff »Verfassung« und die Staatssymbole mußte nach den Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden verzichtet werden. Aber an den grundlegenden Absichten, die die EU-Oberen mit dem »Verfassungsvertrag« verbunden hatten, hat sich nichts geändert. Der Lissabon-Vertrag ist eine um die »Symbolik« abgespeckte Neuauflage des ursprünglichen »Verfassungsvertrags«. Viele Artikel wurden sogar Wort für Wort übernommen, anderen nur geringfügig verändert. Formal handelt es sich um zwei Verträge: den eigentlichen »Vertrag über die Europäische Union« (EUV) und den »Vertrag über die Arbeitsweise der Union« (AEUV), die unter der Bezeichnung »Vertrag von Lissabon« zusammengefaßt werden.
Daß der Maastricht-Vertrag und die Folgeverträge jetzt durch den Lissabon-Vertrag ersetzt werden, ist keine Formsache. Die Machthabenden wollten und brauchen den neuen Vertrag, weil die vorhergehenden Verträge Lücken aufwiesen und das Entscheidungsverfahren in der auf 27 Mitgliedstaaten vergrößerten EU durch komplizierte Abstimmungsprozesse als zu schwerfällig angesehen wurde. Die Verfechter selbst betonten immer wieder, daß die EU durch den neuen Vertrag »mehr Effizienz« und eine »größere Handlungsfähigkeit« erlangen soll.
Mehr »Effizienz« – wofür?
Der jüngste EU-Gipfel Ende Oktober in Brüssel hat auf einigen Gebieten vorgezeichnet, wohin die Reise mit der »effizienteren« und »handlungsfähigeren« EU in nächster Zeit gehen soll.
Die letzten Tage waren zwar noch von Querelen um die Besetzung der neuen Spitzenämter beherrscht sein. Die Ernennung des neuen ständiger »Präsidenten des Europäischen Rates« sowie der »Hohen Vertreterin für die Außen- und Sicherheitspolitik«, die zugleich oberste Militärchefin und Vizepräsidentin der Kommission ist, und die Zusammensetzung der künftigen EU-Kommission waren und sind von Kämpfen um Einfluß, nationalstaatlichen und parteipolitischen Rivalitäten begleitet. Aber bereits im September wurde als Signal dafür, daß auf keinen Fall ein Kurswechsel ansteht, der neoliberale Rechte Barroso von der »Europäischen Volkspartei« (EVP) für weitere fünf Jahre zum Chef der EU-Kommission bestimmt.
Spätestens Anfang 2010 wird die neue »institutionelle Struktur« aber Fahrt aufnehmen wollen und die Weiterentwicklung der EU-Politik in der von den herrschenden Kreisen gewünschten Richtung vorantreiben.
Vorhaben, die schon in Arbeit sind
Im Schlußprotokoll des vorerst letzten EU-Gipfels wurden drei »Arbeitsfelder« für die neue EU-Führung aufgezeigt.
• Die EU soll alle Mitgliedstaaten drängen, ihre »Konjunkturprogramme« zur Abfederung der Wirtschaftskrise ab 2011 zu beenden und zum EU-»Stabilitätspakt« zurückzukehren. Das heißt: Druck auf die Einzelstaaten zur Reduzierung der Haushaltsdefizite durch weitere Einschränkung öffentlicher Ausgaben, vor allem im sozialen und kulturellen Bereich.
• Die EU orientiert sich – den Wünschen der USA entsprechend – auf ein stärkeres »Engagement« mit mehr Geld und Personal in Afghanistan und Pakistan – rrotz der ablehnenden Haltung der großen Mehrheit der Bevölkerung in nahezu allen EU Staaten.
• Die Abschottung der EU gegen unerwünschte Einwanderer und Flüchtlinge soll verstärkt werden durch eine stärker »koordinierte Einwanderungspolitik« und durch den Ausbau der EU Grenzschutztruppe »Frontex«.
Einige weitere Vorhaben, an denen in der Brüsseler Bürokratie bereits gearbeitet wird, sind:
• Druck auf die Mitgliedstaaten zur weiteren Privatisierung öffentlicher Dienste (Post, Bahn, Gesundheitswesen u.a.);
• Weitere Deregulierung der zulässigen Höchstarbeitszeiten und des Kündigungsschutzes, Anhebung des Rentenalters;
• Erarbeitung einer neuen »Lissabon-Strategie«, um die EU zum »dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt« zu machen, nachdem dieses ursprünglich bis 2010 anvisierte Ziel nicht geschafft worden ist, einschließlich weiterer Deregulierung »sozialstaatlicher« Hindernisse für die Profitstrategien der großen Finanz- und Industriekonzerne sowie entsprechender Koordinierung und Konzentration von Forschungsprojekten und Umstrukturierung von Finanzmitteln (einschließlich Konflikten um deren Verteilung)
• Reform des EU-Agrarmarkts mit Umschichtung eines großen Teils der bisher in die Landwirtschaft fließenden Mittel in andere Wirtschaftsbereiche;
• Ausbau des Systems der Bürgerüberwachung durch weitere Vernetzung von Polizei, Justiz und Geheimdiensten sowie der entsprechenden Kriminal-, Fahndungs-, Verdachts- und anderer Datenbanken;
• Aufrüstung der »militärischen Kapazitäten« der EU-Staaten unter Anleitung der »Europäischen Verteidigungsagentur« (EVA) mit dem Ziel, zwei bewaffnete globale Kampfeinsätze gleichzeitig durchführen zu können
• Neufassung der EU-Militärstrategie.
Weltmachtanspruch
Trotz des in der Wirtschaftskrise sichtbar gewordenen Scheiterns des kapitalistischen Wirtschaftsmodells bleibt es dabei, daß im Lissabon-Vertrag nicht nur die »freie Marktwirtschaft mit unverfälschtem Wettbewerb«, also das kapitalistische Wirtschaftssystem generell, sondern in vielen Details ausdrücklich auch dessen neoliberale Ausrichtung als verbindliche Grundlage für alle EU-Staaten fest- und vorgeschrieben wird.
Zugleich zielt der Lissabon-Vertrag darauf ab, die Rolle der EU als »global player« weiter auszubauen. Beides hängt miteinander zusammen: die neoliberale Formierung der Verhältnisse im Inneren der EU entsprechend den Interessen der dominierenden Großkonzerne und Banken und die Stärkung der Fähigkeit der EU zur weltweiten politischen und militärischen Intervention zwecks Sicherung von Rohstoffquellen, Absatzmärkten, ökonomischen und politischen Einflußsphären, geostrategischen Stützpunkten und internationalen Transportwegen.
Ausbau der EU-Zentralmacht
Zu den wesentlichen Neuerungen des Lissabon-Vertrags gehört, daß er im Interesse größerer »Effektivität« und »Handlungsfähigkeit« auf eine Stärkung und Erweiterung der Machtbefugnisse der zentralen EU-Instanzen hinausläuft.
Hierzu gehört neben der Neugestaltung der EU Spitzen u.a. die Festlegung, daß das von den EU-Gremien beschlossene Recht »Vorrang gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten« hat. Zugleich wurden die »Zuständigkeiten« präzisiert, in denen die EU die »ausschließliche« bzw. eine mit den Mitgliedstaaten »geteilte« Kompetenz hat – wobei die Mitgliedstaaten auf diesen Gebieten eigene Gesetze nur erlassen können, »sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat« (Art. 2 AEUV).
Ferner bestätigt der Vertrag den weitgehenden Verzicht auf das ursprünglich einmal generell geltende Konsensprinzip und die deutliche Ausweitung der Politikbereiche, in denen mit »qualifizierten Mehrheit« entschieden wird. Während früher jeder Einzelstaat die Möglichkeit hatte, seinen Interessen zuwiderlaufende Entscheidungen zu blockieren, können künftig in weitaus mehr Politikfeldern als bisher Mehrheitsentscheidungen auch gegen den Willen einzelner Mitgliedstaaten getroffen werden. Zudem wurde mit den festgelegten Abstimmungsregeln für die »qualifizierte Mehrheit« durch die Einführung eines »demographischen Kriteriums« eine institutionelle Stärkung der Vormachtstellung der bevölkerungsreichsten großen Staaten gegenüber den kleineren festgeschrieben.
Es gibt in einzelnen Mitgliedstaaten immer noch erhebliche Widerstände gegen den Ausbau der zentralen Machtbefugnisse der EU, auch in Teilen der in diesen Ländern herrschenden Klassen. Dieses Spannungsfeld zwischen EU Befugnissen und nationalstaatlichen Eigeninteressen wird auch künftig bestehen bleiben. Oft stehen hinter den nationalstaatlichen Einwänden neben unterschiedlichen wirtschaftlichen Situationen und Interessen auch ausgesprochen reaktionäre Klassenkräfte, denen EU-Regelungen im sozialen Bereich bereits zu weit gehen und in gesellschaftspolitischen Fragen zu »liberal« oder zu wenig »christlich« sind.
Es sollte nicht übersehen werden, daß die Regelung von Interessenunterschieden unter imperialistischen Bedingungen letztlich nicht nach rein »demokratischen Spielregeln« erfolgt, sondern durch die jeweiligen ökonomischen und politischen Kräfteverhältnisse bestimmt wird. Die kleineren Staaten sind in vieler Hinsicht von den führenden imperialistischen Hauptmächten abhängig und in ein dichtes Netzwerk solcher Abhängigkeiten eingebunden, denen sie sich ohne große Schwierigkeiten kaum entziehen können.
Alles in allem bestätigt der Lissabon-Vertrag besonders mit seinen »institutionellen« Neuregelungen die Feststellung, daß die wirtschaftliche und politische Dynamik die EU dazu drängt, sich den Kern eines supranationalen Staatsapparats zu verschaffen.
Die EU ist und bleibt mit dem neuen Grundvertrag ein Instrument im Dienst der Profit- und Machtinteressen der in Europa ansässigen und von Europa aus transnational und weltweit agierenden großen Industrie- und Finanzkonzerne. Die EU ist zu einem eigenständigen ökonomischen, politischen und militärischen Zentrum neben den USA geworden und soll weiter zu einer global agierenden imperialistischen Weltmacht ausgebaut werden.
Diese Einschätzung des Klassencharakters der EU unterscheidet die Position der Kommunisten von »europositiven« oder »eurokonstruktiven« Herangehensweisen reformistischen Charakters, wie sie vielfach in anderen Teilen der Linken, auch in der »Europäischen Linkspartei«, aber nicht nur dort, zu finden sind.
Leicht gekürzt aus der Wochenzeitung »Unsere Zeit«