Ausland06. Dezember 2022

Ein Schuß in das eigene Knie

Ölembargo und Preisdeckel auf russisches Erdöl als gesichtswahrenden Ausweg aus einer Fehlleistung der EU

von German Foreign Policy

Der Versuch von EU und G7, einen Preisdeckel für russisches Erdöl zu oktroyieren, könnte der EU mehr schaden als Rußland. Dies geht aus Einschätzungen von Experten hervor. Die EU-Kommission will den Preisdeckel nicht unterhalb von 60 US-Dollar pro Barrel festsetzen; damit entspricht er annähernd dem Preis, den Rußland zur Zeit erzielt. Lediglich Polen und die baltischen Staaten wollen ihn auf 30 US-Dollar drücken; weil Rußland in diesem Fall aber überhaupt nicht liefern würde, fehlte sein Erdöl dann auf dem Weltmarkt; eine auch für den Westen verheerende Preisexplosion wäre die Folge.

Dies ist der Grund, weshalb mittlerweile selbst Washington auf einen Preisdeckel von mindestens 60 US-Dollar dringt. Ist ein solcher Preisdeckel nicht geeignet, Rußland ernsthaft zu schädigen, so sind Reeder und Schiffsversicherer aus Europa dabei, Marktanteile zu verlieren: Die Drohung mit dem Preisdeckel hat Rußland und mutmaßlich auch Indien und China dazu gebracht, ihre eigenen Tanker- und Versicherungskapazitäten auszubauen. Ein US-amerikanischer Experte urteilt über EU und G7: »Sie haben sich selbst in das Knie geschossen.« Eine Preisexplosion ist wegen des EU-Ölembargos dennoch möglich.

Das Ölembargo

Der Preisdeckel für russisches Erdöl sollte am Montag in Kraft treten – parallel zum EU-Embargo auf per Schiff transportiertes russisches Öl. Nicht betroffen ist Öl, das per Pipeline nach Ungarn, in die Slowakei und nach Tschechien geliefert wird; diese haben als Binnenländer deutlich größere Schwierigkeiten, sich Zugang zu alternativen Ölquellen zu verschaffen, und deshalb eine Ausnahmegenehmigung erhalten.

Ursprünglich war geplant, gleichzeitig mit dem Ölembargo ein Verbot für Firmen aus der EU zu verhängen, russisches Öl per Schiff zu transportieren, Öltransporte zu versichern oder sich auf irgendeine andere Art und Weise an ihnen zu beteiligen. Dies hätte wohl gravierende Folgen mit sich gebracht.

Griechenland besitzt laut Branchenangaben 21 Prozent aller Tankschiffe für den Transport flüssiger Stoffe weltweit; griechische Reeder transportieren große Mengen russischen Öls; weitere Kapazitäten in Zypern, Malta und in anderen westlichen Ländern kommen hinzu.

Finanzunternehmen in der EU und vor allem in Britannien versichern rund 90 Prozent des Seehandels. Dürften sie alle keinerlei Geschäft mehr mit russischem Erdöl machen, dann verlören sie nicht nur einen lukrativen Markt; es stünde auch zu befürchten, daß größere Mengen russischen Öls nicht mehr auf den Weltmarkt gelangten, die Preise in astronomische Höhen schnellten und die Wirtschaft im Westen in eine weitere dramatische Krise stürzte.

Der Ölpreisdeckel

Das ist der Grund dafür, daß die G7 und in ihrem Gefolge auch die EU den Plan verfolgen, sämtliche Geschäfte mit russischem Öl – Schiffstransport, Versicherungen und anderes mehr – an einen Preisdeckel zu binden: Sämtliche Geschäfte sollen erlaubt sein, sofern der Preis, den Rußland für die Öllieferungen kassiert, eine von der EU diktierte Höhe nicht überschreitet. Mit dem Preisdeckel wollen EU und die G7 die russischen Einnahmen aus dem Ölexport reduzieren, gleichzeitig aber verhindern, daß zu wenig russisches Erdöl auf den Weltmarkt gelangt und die Preise explodieren.

Daß dies gelingt, ist durchaus ungewiß: Moskau hat angekündigt, sich Preisdiktate nicht bieten zu lassen und Staaten, die den Preisdeckel einführen, nicht mehr zu beliefern. Damit droht die befürchtete Preisexplosion erneut.

Es kommt hinzu, daß sich Rußland mit ganzer Energie bemüht, eine vom Westen unabhängige Tankerflotte zusammenzustellen und vom Westen unabhängige Versicherer aufzutun – vor allem im eigenen Land, in China und in Indien. Damit wären Reeder und Versicherer aus der EU sowie aus Britannien tendenziell aus dem Geschäft und müßten nicht nur konkrete Einbußen, sondern perspektivisch auch den Verlust ihrer bislang starken, teilweise sogar dominanten Weltmarktposition hinnehmen.

Washington greift ein

Dies wiederum hat die EU veranlaßt, den Preisdeckel so anzusetzen, daß er in etwa dem Preis entspricht, den Rußland aktuell mit seinen Erdölexporten erzielt. Verläßliche Angaben über den Preis liegen nicht vor; Schätzungen belaufen sich auf Werte zwischen 17 und 23 US-Dollar unterhalb des Preises der Nordseesorte Brent. Die Hoffnung lautete, Moskau sei womöglich bereit, einen Preisdeckel, der ihm kaum schade, stillschweigend zu akzeptieren; die Schäden für Reeder und Versicherer aus Europa blieben dann aus oder wären gering, der Ölpreis schnellte nicht in die Höhe – und man könnte den Preisdeckel später schrittweise verschärfen.

Im Gespräch war zunächst ein Deckel zwischen 65 und 70 US-Dollar pro Barrel; er wurde von den USA unterstützt. Blockiert wurde dies allerdings vor allem von Polen, Estland und Litauen, die auf einem Preisdeckel von 30 US-Dollar pro Barrel bestanden, um Rußland so massiv wie möglich zu schaden.

Die Wahrscheinlichkeit, daß Rußland einen solchen Preisdeckel akzeptieren würde, war faktisch null; Polen, Estland und Litauen nahmen also einen plötzlich auftretenden Ölmangel auf dem Weltmarkt, eine Preisexplosion sowie gravierende Folgen für alle Länder bewußt in Kauf. Laut Berichten hat Washington ihre Widerstände, die die EU nicht ausräumen konnte, jetzt per Machtwort beseitigt. Der Preisdeckel soll, so heißt es, bei 60 US-Dollar liegen.

Kaum Kontrollen

Zu der Tatsache, daß der Preisdeckel nun sehr nah an dem ohnehin von Rußland erzielten Preis liegen soll, kommt hinzu, daß die Kontrollbestimmungen offenbar recht locker gehalten sind. So heißt es etwa, Versicherer seien nicht dazu verpflichtet, schriftliche Zusicherungen der Ölkäufer, den Preisdeckel einzuhalten, bei einer zentralen Registerstelle einzureichen. Zudem sollen Verstöße nicht mehr, wie ursprünglich geplant, mit einem dauerhaften Ausschluß vom EU-Markt bestraft werden, sondern »nur« mit einer drei Monate währenden Sperre.

Der Preisdeckel werde vor allem die Öllieferströme umleiten, wird Daniel Ahn, einst ein hochrangiger Ökonom im USA-Außenministerium, zitiert. Allerdings scheinen europäische Reeder und Versicherer wegen des Versuchs, Rußland mit dem Preisdeckel zu schaden, Marktanteile zu verlieren. So wird ein Experte der Schweizer Bank Julius Baer mit dem Hinweis zitiert, Ölhändler operierten heute weniger von Genf oder London aus, sondern zunehmend aus dem Mittleren Osten.

Der ehemalige Mitarbeiter des State Department Daniel Ahn urteilte bereits am 22. Oktober: »Sie haben sich selbst in das Knie geschossen, und nun versuchen sie sozusagen, es irgendwie zu bandagieren.«

Mittlerweile deutet – wohl mit Blick auf die für Rußland günstige Gesamtlage – Moskau eine gewisse Bereitschaft zu einem flexiblen Umgang mit dem Preisdeckel an.

Va banque

Bei alledem ist freilich nicht ausgeschlossen, daß der Preisdeckel-Oktroy nicht nach Plan läuft und der Ölpreis explodiert. Dies könne etwa dann geschehen, wenn Rußland sich dem Preisdeckel verweigere und nicht genügend Versicherer jenseits des Westens bereitstünden, um Öltransporte mit Hilfe nichtwestlicher Schiffe abzudecken, warnte jüngst die britische Zeitschrift »The Economist«.

Unklar ist vor allem auch, ob die Umleitung der globalen Erdöllieferungen gelingt, die das EU-Embargo erzwingt. Noch im Oktober importierten die EU-Staaten rund 2,5 Millionen Barrel Erdöl und Erdölprodukte pro Tag aus Rußland. Öl darf seit Montag, Ölprodukte dürfen ab dem 5. Februar nicht mehr eingeführt werden. Woher die EU dann Öl und Ölprodukte beziehen wird, ist nicht klar. Die Lieferungen, die sie sich sichert, werden anderen – vorzugsweise ärmeren – Staaten fehlen. Können die russischen Öltransporte nicht schnell genug umgeleitet werden, entstehen Angebotslücken, die den Preis rasant in die Höhe treiben könnten.

Die EU spielt mit dem Embargo einmal mehr va banque – zu Lasten vor allem ärmerer Bevölkerungsteile und ärmerer Länder.