Ausland05. August 2020

Ein Krieg von wenigen Sekunden

Beirut und der Libanon sind nach der gewaltigen Explosion im Hafen von Beirut Katastrophengebiet

»Mir fehlen die Worte, um das hier zu beschreiben.« Die Stimme von Hassan A. klingt leise am Telefon. Am Abend zuvor, am Dienstag gegen 18 Uhr Ortszeit hatte eine gewaltige Explosion Teile des Hafens von Beirut verwüstet. Mehr als 100 Tote wurden am Mittwoch gemeldet, mehr als 4.000 Menschen wurden verletzt. Krankenhäuser in Beirut sind zerstört oder komplett überlastet, Verletzte werden in Kliniken im Norden, in der Bekaa Ebene und nach Süden gebracht. Die Druckwelle der schweren Explosion zerstörte Häuser im Umkreis von bis zu 10 Kilometern ganz oder teilweise. Mehr als 200.000 Menschen wurden als obdachlos gemeldet. Staatspräsident Michel Aoun verhängte eine dreitägige Staatstrauer.

Bei Facebook und Twitter berichten zahlreiche Einwohner der libanesischen Hauptstadt, es sei wie ein Erdbeben gewesen. Hamza T. der mit seiner Familie im 80 Kilometer südlich von Beirut gelegenen Tyr lebt, berichtete der Autorin, sie hätten die Detonation gespürt. Selbst im etwa 200 km entfernten Zypern hätten die Häuser gewackelt, berichtete Michael Jansen, Korrespondentin der »Irish Times« aus Nikosia im Gespräch mit der Autorin. Sie selber sei zu dem Zeitpunkt im Garten gewesen und habe nichts gemerkt. Doch Nachbarn aus dem Stadtteil Engomi hätten ihr von wackelnden Türen und Böden in ihren Wohnungen berichtet. Der Nachrichtensender Euronews mit Sitz im französischen Lyon berichtete, laut dem deutschen Geoforschungszentrum GFZ in Potsdam seien die Erschütterungen mit einer Stärke von 3,5 auf der Erdbeben-Richterskala notiert worden.

Die Libanesen sind zutiefst erschüttert

»Aber uns geht es allen gut, niemand ist zu Schaden gekommen«, berichtet Hassan A. weiter. »Nur die Fenster auf der Frontseite und die Glastür am Eingang sind zerstört.« Der junge Mann arbeitet in der Rezeption eines Hotels im Beiruter Stadtteil Hamra, das rund 7 Kilometer vom Explosionsort entfernt liegt. Die Evangelische Gemeinde in Beirut liegt nur wenige Schritte von dem Hotel entfernt, in Ras Beirut. Er selber sei zu einem Familienbesuch in Deutschland, berichtete Pfarrer Jürgen Henning auf Anfrage der Autorin. Ali, der Hausmeister des Gebäudes, in dem die Kirche, die Büroräume der Gemeinde und einige Wohnungen liegen, sei gesund, doch fast alle Fenster in den Wohnungen und im Eingangsbereich seien zerborsten. »Nur unsere Wohnung und die daneben sind unversehrt, weil die Fenster geöffnet waren.« Wie viele Einwohner von Beirut verschickte auch Pfarrer Henning Videoclips, die Bekannte, Freunde oder Verwandte von ihren Wohnungen und Häusern veröffentlicht hatten. Die Verwüstung und Zerstörung, vor allem aber die für alle gut sichtbare Explosion hat die Menschen zutiefst erschüttert.

Erst war eine Rauchsäule über dem Hafen unweit des großen, markanten Getreidesilos zu sehen gewesen. Funken blitzten auf, viele dachten an Munition oder Feuerwerkskörper, die in Brand geraten waren. Dann dehnte sich eine riesige weiße, kugelförmige Wolke aus, aus deren Mitte eine gewaltige Explosion hervor schoß und eine braun-rosa-rot-orangene Rauchsäule in den Himmel stieg. Etwa 10 Sekunden später folgte die gewaltige Erschütterung der Druckwelle.

Nur wenig später wurden die Libanesen im Land über soziale Medien aufgefordert, in den Häusern zu bleiben und nicht auf die Straßen zu gehen. »Die Art des Feuers deutet darauf hin, daß die Explosion von Salpetersäure ausgelöst wurde. Bitte bleiben sie im Haus«, hieß es. Salpetersäure, im Englischen Nitric Acid, bildet in Verbindung mit Ammoniak das Salz Ammonium-Nitrat. Diese hochgiftige und durch Hitzeeinwirkung leicht entzündliche Chemikalie wird für die Herstellung von Düngemitteln, aber auch von Sprengstoff benutzt.

Der Chef des libanesischen Inlandsgeheimdienstes Abbas Ibrahim meldete sich kurz darauf zu Wort. Die Explosion sei möglicherweise durch hochexplosives Material ausgelöst worden, das vor Jahren auf einem Schiff beschlagnahmt und im Hafen gelagert worden war. Noch am Abend konkretisierte Ministerpräsident Hassan Diab die Äußerungen von Ibrahim. An dem Ort der Explosion seien seit Jahren 2.750 Tonnen Ammonium-Nitrat gelagert gewesen, so Diab. Die Verantwortlichen dafür würden ausfindig gemacht und »den Preis bezahlen«.

Gefährliche Fracht im Hafen von Beirut

Recherchen verschiedener Medien zufolge wurde die hochexplosive Ladung im September 2013 von dem Frachtschiff »Rhosus von Batumi« (Georgien) nach Mozambique gebracht. Angeblich habe das Schiff technische Probleme gehabt und im Hafen von Beirut um Hilfe gebeten. Die dortigen Hafenbehörden hätten das Schiff untersucht und es als seeuntauglich beschlagnahmt. Die Reederei sei Bankrott gegangen und habe sich weder um Mannschaft noch Ladung gekümmert. Die gefährliche Fracht sei dann 2014 an Land gebracht und ohne irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen gelagert worden.

Wiederholt hatten die Zollbehörden das verantwortliche Transportministerium auf die Gefahr aufmerksam gemacht und sich auch an Richter und Staatsanwälte gewandt, um einen Abtransport in die Wege zu leiten, doch nichts geschah. Die politische Verantwortung in dieser Zeit lag bei den Regierungen von Tamam Salam (2014) und von Saad Hariri (2016-2019).

Die libanesische Tageszeitung »Al Akhbar« verglich die Wucht der Explosion im Hafen von Beirut mit der einer »taktischen« Atombombe und sprach von einem Krieg, der nur wenige Sekunden gedauert habe. Tatsächlich hat der Libanon seit seiner Unabhängigkeit 1946 viel durchgemacht. Nach Coups und politischen Unruhen gab es 1956 ein schweres Erdbeben, einen Bürgerkrieg und die Invasion der USA 1958, einen weiteren Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, einhergehend mit der israelischen Besatzung 1982, die bis 2000 dauerte, und einen weiteren Krieg mit Israel 2006.

Das, was am 4. August 2020 geschehen sei, die gigantische Explosion, sei keine technische, sondern eine politische Angelegenheit. Jeder Libanese sei betroffen, solch eine Zerstörung gebe es nur im Krieg. »Die Zerstörung des Hafens gleicht der nach einem militärischen Angriff«, so die Zeitung »Al Akhbar« weiter. Es dauerte nur wenige Sekunden, aber die waren lang genug, um Beirut, die Küstenstadt und den ganzen Libanon in ein Katastrophengebiet zu verwandeln. Der Hafen von Beirut ist nicht nur für die importabhängige Wirtschaft des Libanon sondern auch für Syrien lebensnotwendig.

Karin Leukefeld

Der Hafen von Beirut nach der Explosion (Foto: Marwan Naamani/dpa)