»Es geht mehr um Kontrolle und Macht«
Israel benutzt Geschichtsschreibung und Archäologie, um jeden muslimischen Anspruch auf Jerusalem zu negieren – Interview mit Nazmi Ju’beh
Jerusalem, das auf arabisch Al Quds heißt, ist die Kulturhauptstadt der arabischen Welt 2009. Merkt man davon etwas in Ihrer Heimatstadt?
Leider merkt man davon mehr in Ramallah, Bethlehem, Hebron, Nablus oder Damaskus, in Amman und in Tunesien. Die Israelis haben Aktivitäten unter diesem Motto nicht erlaubt. Konzerte, Ausstellungen von Künstlern – alles wurde verboten. Jede öffentliche Versammlung, die etwas mit Al Quds als Kulturhauptstadt der arabischen Welt zu tun hatte, wurde untersagt. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung der Altstadt sind aber Araber. Auch nach mehr als 42 Jahren israelischer Besatzung bestimmen Kirchen ebenso wie Moscheen das Bild der Altstadt.
Auf alten Karten wird sie ähnlich dargestellt wie die von Damaskus. Sie ist aufgeteilt in ein christliches, ein muslimisches, ein jüdisches sowie ein armenisches Viertel. War diese Einteilung richtig?
Das ist falsch, diese Vorstellung kam um 1800 auf, als europäische Reisende nach Jerusalem kamen. Daß sie die Altstadt in vier Gebiete aufteilten, entsprach ihrer europäischen Vorstellung, denn auf ihrem Kontinent gab es nur Katholiken oder Lutheraner und vielleicht noch ein jüdisches Getto.
Aber die orientalischen Städte waren immer gemischt. Ich selbst wurde in einem Haus geboren, in dem drei Familien lebten: eine griechisch-orthodoxe, eine armenische und eine muslimische – das waren wir. In der Altstadt gab es keine Abgrenzungen zwischen den Religionsgemeinschaften, sie lebten miteinander. Ungefähr seit dem 14. Jahrhundert gab es allerdings einen jüdischen Häuserkomplex. Und nach 1967, als die Israelis einen Teil der Altstadt besetzten, deklarierten sie diesen als jüdisches Wohnviertel. Die Juden haben also für sich ein Getto in der Altstadt gebaut.
Der israelische Staat bezeichnet Jerusalem als die »ewige Hauptstadt« der Juden, es gibt eine Bewegung radikaler Juden, die die Stadt »judaisieren« wollen. Was sagen Sie als Historiker und Archäologe dazu?
Seit den frühen 80er Jahren versucht man, die muslimischen Beziehungen zu Jerusalem zu leugnen. Man sagt zum Beispiel, Jerusalem sei nie eine arabische Hauptstadt gewesen, und der islamische Charakter der Stadt sei marginal. Leider gibt es viele israelische Akademiker, die dieses Spiel mitgespielt haben.
Heißt das, daß die Geschichte umgeschrieben wurde?
Überall auf der Welt wird Geschichte umgeschrieben. Der Staat Israel beruft sich auf historische Rechte, also mußten Wissenschaftler die Geschichte neu schreiben, um die Besatzungspolitik zu rechtfertigen. Heute wissen wir mehr darüber, denn auch israelische Historiker publizieren ihre Erfahrung und reflektieren sie kritisch. Wir wissen heute, daß Ben Gurion eines Tages Historiker, Archäologen und Geographen um sich sammelte und sagte: Jetzt haben wir einen Staat, für den wir eine Geschichte brauchen.
Soll damit auch verschleiert werden, daß Israel palästinensisches Land seit 42 Jahren besetzt hält?
Ich glaube, es geht Israel letztlich mehr um Kontrolle und Macht als um Heiligtümer und Historie. Zurzeit wird die Archäologie als Hebel benutzt, um die Siedlungspolitik zu forcieren. Die ganzen Ausgrabungen in der Altstadt von Jerusalem und drum herum werden von der Siedlerbewegung finanziert.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Silwan. Das ist ein großes Gelände südlich der Altstadt von Jerusalem, das von Israel als »Grüne Zone« deklariert wurde. Hier wurden Ausgrabungen vorgenommen, die von Siedlern finanziert wurden – und jetzt wollen sie dort ein Informationszentrum errichten. Anstatt es als archäologische Ruine zu belassen, wird darauf eine Einrichtung für die Siedler gebaut.
Nach Internationalem Recht ist es einer Besatzungsmacht untersagt, auf okkupiertem Land Ausgrabungen vorzunehmen.
Das stimmt. Besatzer dürfen keine Ausgrabungen in besetzten Gebieten durchführen, außer, um etwas vor dem Verfall zu retten. 99 Prozent aller israelischen Ausgrabungen in der Westbank, im Gazastreifen und in Ostjerusalem sind nach internationalem Recht verboten, illegal.
Interview: Karin Leukefeld