Eine europäische Kolonie im Indischen Ozean
Manöver vor USA-Stützpunkt Diego Garcia im Indischen Ozean. Chagos-Archipel völkerrechtswidrig von Britannien besetzt
Man kennt den Vorwurf. Da hat ein Staat die Kontrolle über kleine Inseln und Atolle übernommen, militärische Anlagen auf ihnen errichtet – und dann urteilt ein internationaler Gerichtshof plötzlich, dieser Staat breche damit das Völkerrecht. Na klar, würde der treue Konsument der großen deutschen Leitmedien sofort sagen: Gemeint ist China, dessen Ansprüche auf Inseln im Südchinesischen Meer der Ständige Schiedshof in Den Haag am 12. Juli 2016 zurückgewiesen hat.
Nun, die Territorialstreitigkeiten im Südchinesischen Meer sind ein überaus komplexes Thema. Doch davon abgesehen: Die erwähnte Konstellation – widerrechtliche Inbesitznahme von Inseln zu militärischen Zwecken – trifft ohne Zweifel auf die Militärbasis der USA Diego Garcia auf dem britisch okkupierten Chagos-Archipel inmitten des Indischen Ozeans zu. Internationale Gerichte haben dies mittlerweile bestätigt; Washington nutzt für seine Kriege also bereits seit Jahrzehnten eine völkerrechtswidrig von London besetzte Insel. Und: Das Thema betrifft aktuell auch Deutschland – Diego Garcia ist eines der Ziele der Fregatte »Bayern« auf ihrer Asien-Pazifik-Fahrt.
Das größte der sieben Atolle des Chagos-Archipels ist bis heute eine europäische Kolonie. Frankreich hatte die bis dahin unbewohnte Inselgruppe 1783 in Beschlag genommen und afrikanische Sklaven dorthin verschleppt. 1814 übernahm das britische Empire das Archipel, das von der britischen Kolonie Mauritius östlich von Madagaskar aus verwaltet wurde. Der Zustand hielt an, bis sich in den 1960er Jahren die Dinge zuspitzten. Zum einen hatte die Entkolonialisierung weltweit Fahrt aufgenommen; auch Mauritius bereitete sich auf seine Unabhängigkeit vor. Zum anderen aber waren die USA aus geostrategischen Gründen auf der Suche nach einem Militärstützpunkt im Indischen Ozean – und sie nahmen Diego Garcia ins Visier.
Es kam, wie es kommen mußte: London trennte völkerrechtswidrig das Chagos-Archipel von Mauritius ab, verwaltet es seit 1965 als British Indian Ocean Territory (BIOT), und die USA errichteten dort ihre Marine- und Luftwaffenbasis. Zuvor hatte Britannien noch – auf Druck aus Washington – die komplette Bevölkerung, wohl gut 2.000 Nachkommen der dereinst verschleppten Sklaven, in Elendsviertel auf Mauritius und den Seychellen deportiert.
UNO-Beschlüsse werden mißachtet
Diego Garcia hat für die USA hohe militärstrategische Bedeutung erlangt. Mauritius – ein kleiner Inselstaat mit einer Bevölkerung von knapp 1,3 Millionen Menschen – hatte jahrzehntelang keine Chance, seinen Anspruch auf den Chagos-Archipel gegen die früheren britischen Kolonialherren und die Supermacht USA durchzusetzen. Seit gut einem Jahrzehnt geht das Land nun aber mit neuer Kraft gegen die völkerrechtswidrige Abspaltung seiner Inseln vor und hat zuletzt bemerkenswerte Erfolge erzielt. Nachdem die UNO-Generalversammlung am 22. Juni 2017 den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag beauftragt hatte, den Status des Chagos-Archipels juristisch zu prüfen, bestätigte dieser am 25. Februar 2019, die Abtrennung der Inseln im Jahr 1965 sei völkerrechtswidrig erfolgt; Britannien müsse seine »koloniale Verwaltung« des Archipels »so schnell wie möglich« einstellen. Daraufhin forderte die UNO-Generalversammlung das Vereinigte Königreich am 22. Mai 2019 mit 116 gegen sechs Stimmen auf, dem Spruch des IGH binnen sechs Monaten nachzukommen. London tat dies natürlich nicht.
Noch peinlicher wurde es am 28. Januar 2021, als nun auch noch der Internationale Seegerichtshof der Organisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Hamburg ebenfalls bestätigte, die Souveränität über den Chagos-Archipel liege eindeutig bei Mauritius; daß Britannien sich die Kontrolle über die Inseln anmaße, sei ein klarer Bruch des Völkerrechts. Mittlerweile hat mit dem Weltpostverein (Universal Postal Union, UPU) bereits eine erste UNO-Spezialorganisation Konsequenzen gezogen. Die UPU beschloß auf ihrem 27. Weltpostkongreß, vom 9. bis 27. August in der ivorischen Stadt Abidjan, den Sprüchen der internationalen Gerichtshöfe nachzukommen und Briefmarken, die von der BIOT-Verwaltung ausgegeben werden, nicht mehr anzuerkennen. Mit ihnen frankierte Post dürfen UPU-Mitgliedstaaten nun im Prinzip nicht mehr befördern.
Vor diesem Hintergrund ist auch das Fahrtziel Diego Garcia der Fregatte »Bayern« der deutschen Kriegsmarine zu sehen. Was hatte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) doch gleich bei der Entsendung der Fregatte am 2. August in Wilhelmshaven gesagt? »Als Verfechter einer regelbasierten Ordnung ist es uns nicht egal, wenn geltendes Recht mißachtet wird und völkerrechtswidrige Fakten geschaffen werden.« Außenminister Heiko Maas (SPD) hatte zum selben Anlaß verkündet, Berlin setze sich »im Indo-Pazifik« ganz besonders »für die Einhaltung des Völkerrechts« ein. Gedacht war das als Attacke gegen China, gewiß aber nicht als Aufforderung an Britannien, das Chagos-Archipel an Mauritius zurückzugeben. Schon zuvor hatte sich Deutschland, selbsternannter Vorkämpfer für das Völkerrecht, bei allen Abstimmungen der UNO zur britischen Kolonialherrschaft über die Inselgruppe stets konsequent enthalten.
Imperialisten unter sich
In Mauritius hatten viele ihre Hoffnungen auf Joseph Biden gesetzt: Der neue USA-Präsident, hieß es, rede so viel von einer »regelbasierten internationalen Ordnung« – da könne er doch wohl kaum das Recht von Mauritius, den Chagos-Archipel zurückzuerhalten, in Frage stellen. Im August hat die Biden-Regierung klargestellt, daß sie das sehr wohl kann, und sie hat dazu noch schärfere Formen gewählt als die unter Donald Trump. Hatte diese sich noch – wie auch frühere Administrationen – damit herauszureden versucht, der Streit um die Inseln müsse zwischen Mauritius und Britannien gelöst werden, so teilte das USA-Außenministerium laut einem Bericht der »Washington Post« von Anfang August mit, die Vereinigten Staaten unterstützten »die Souveränität des Vereinigten Königreichs (über den Archipel) kategorisch«. Angebote der mauritischen Regierung, bei einer Rückgabe der Inseln den USA einen langfristigen Pachtvertrag für ihren Militärstützpunkt einzuräumen, waren damit hinfällig.
Basis für USA-Bomber
Die USA-Marine- und Luftwaffenbasis auf dem zum Chagos-Archipel gehörenden Atoll Diego Garcia gilt als einer der bedeutendsten USA-Militärstützpunkte überhaupt. Von ihm aus flogen USA-Kampfjets Angriffe in den Kriegen in Afghanistan und gegen den Irak; auch für Operationen am Horn von Afrika hat er einige Bedeutung. Diego Garcia diente zudem der CIA als »Durchgangsstation« bei der Verschleppung von Verdächtigen in Folterverliese im Rahmen des »Antiterrorkriegs«. Man habe den dortigen Stützpunkt genutzt, »wenn andere Plätze belegt waren oder als zu gefährlich oder zu unsicher galten oder wenn sie gerade nicht zur Verfügung standen«, bestätigte Anfang 2015 Lawrence Wilkerson, Stabschef von USA-Außenminister Colin Powell in den Jahren von 2002 bis 2005. Die CIA habe Verdächtige in solchen Fällen nach Diego Garcia ausgeflogen »und sie dort, sagen wir mal, untergebracht und ab und zu befragt«.
Zentrum eines entstehenden Netzwerks
Diego Garcia wird auch künftig größte Bedeutung für die militärischen Planungen der USA behalten. Der Stützpunkt liege in relativer Nähe »zu nahezu allen Meerengen, wesentlichen maritimen Kommunikationslinien und potentiellen chinesischen Marinebasen in der Region«, erklärt Michael McDevitt, Konteradmiral a.D. der US Navy, 2020 in einem Kommentar auf der Militärwebseite »War on the Rocks«. Ausdrücklich listete er die Meerengen zwischen Dschibuti und Jemen (Bab Al-Mandab), die am Eingang zum Persischen Golf (Straße von Hormus) wie auch die an der Zufahrt zum Südchinesischen Meer (Straße von Malakka, Lombok-Straße) auf. Daneben die Häfen in Gwadar (Pakistan), Hambantota (Sri Lanka) und Kyaukphyu (Myanmar), in denen China umfangreiche – allerdings zivile – Aktivitäten entfaltet. All diese Orte könnten von Diego Garcia aus von USA-Bombern erreicht werden, ohne daß sie auftanken müßten, hielt McDevitt fest.
Diego Garcia liegt darüber hinaus im Zentrum eines entstehenden Netzwerks von Stützpunkten, die Verbündete der USA unterhalten und das faktisch den gesamten Indischen Ozean abdeckt. Im Osten des Meeres ist vor allem Australien mit seinen Stützpunkten im Westen und im Norden des Landes sowie auf den Kokosinseln präsent; dort wird derzeit eine neue Landebahn gebaut. Im Norden befindet sich zusätzlich zu den Einrichtungen auf dem indischen Festland unter anderem Port Blair auf den Andamanen; im Westen wiederum baut Indien militärische Einrichtungen auf den Seychellen und auf den zu Mauritius gehörenden Agalega-Inseln. Frankreich unterhält eigene Militärstützpunkte in seinen Übersee-Départements Réunion und Mayotte. Mayotte übrigens ist im Zuge der Entkolonialisierung von den Komoren getrennt worden, zu denen es eigentlich gehört; die Komoren fordern die Inseln bis heute zurück. Die Situation wird immer wieder mit derjenigen des Chagos-Archipels verglichen.