Ausland25. März 2020

Schutzmaskenskandal hält Frankreich in Atem

Parlamentarischer Untersuchungsausschuß gefordert

Atemschutzmasken sind in diesen Zeiten der Coronavirus-Epidemie ein gewohnter Anblick. In China und Japan werden sie von jedermann getragen, in anderen Ländern von vielen Menschen. In Frankreich haben sie einen Skandal von nationalem Ausmaß ausgelöst, denn sie reichen nicht einmal für die Ärzte und das medizinische Personal.

Um die Gemüter zu beruhigen, hat Gesundheitsminister Olivier Véran angekündigt, daß noch in dieser Woche 20 Millionen Masken an das Gesundheitswesen und die Altenpflegeheime geliefert werden. Andere besonders ansteckungsgefährdete Menschen, wie Kassiererinnen in den Supermärkten, Briefträger und Boten, die per Internet bestellte Waren ins Haus bringen, Beschäftigte in der Nahrungsgüterindustrie oder der Logistik und auch Polizisten, die die Einhaltung der Regeln des Ausgehverbots kontrollieren, tragen fast nie eine Maske, weil ihnen keine zur Verfügung gestellt werden.

Behörden wie Unternehmen versuchen jetzt, neue Masken zu bestellen. Aber im Inland gibt es nur wenige Hersteller, und China, das früher die meisten Masken lieferte, kurbelt nach der Epidemie gerade erst wieder die Produktion an. Außerdem sind die Transportwege lang und die jetzt georderten Masken dürften erst nach der Epidemie in Frankreich eintreffen.

In diesem Zusammenhang erinnert man sich daran, daß 2018 der USA-Konzern Honeywell Safety sein französisches Werk in Plantel in der Bretagne geschlossen hat. Die letzten 38 der einst 280 Beschäftigten, die jährlich bis zu 200 Millionen Atemschutzmasken hergestellt hatten, wurden entlassen und die Produktion nach Tunesien verlagert. Begründet hat man das damit, daß der Betrieb nicht mehr rentabel sei, vor allem weil umfangreiche Staatsaufträge ausblieben.

Tatsächlich gab es früher eine Strategische Staatsreserve, die sich 2012 noch auf 1,4 Milliarden Atemschutzmasken belief. Doch das hat sich unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande geändert. Im Zuge der Sparpolitik, die nicht zuletzt das Gesundheitswesen getroffen hat, wollte man die jährlich etwas mehr als 50 Millionen Euro einsparen, die die Lagerung der Reserve und die Ersetzung überalterter Masken durch neue kostete. Regierungschef Jean-Marc Ayrault (Premierminister von Mai 2012 bis März 2014) ordnete per Dekret an, daß nun »jeder Arbeitgeber im Rahmen des Schutzes seiner Beschäftigten für das Anlegen von Vorräten an Schutzmaterial zuständig« sei.

Das betraf große wie kleine, private wie staatliche Unternehmen, aber auch alle Krankenhäuser und Arztpraxen. Doch viele haben das vernachlässigt oder es fehlten ihnen dafür die Mittel. Das traf vor allem auf das staatliche Gesundheitswesen zu, das früher zu den besten in der Welt gehörte und von der Regierung immer noch so bezeichnet wird. Doch tatsächlich hat es diesen Rang längst verloren und kämpft – wie die gegenwärtige Krise auf beklemmende Weise deutlich macht – mit einem eklatanten Mangel an Personal, Betten, Technik und finanziellen Mitteln.

Darauf haben seit Monaten die Streiks und Protestaktionen der Beschäftigten aufmerksam gemacht und dagegen haben erst kürzlich landesweit 2.000 Chef-, Ober- und Stationsärzte mit einem Offenen Brief und dem Rücktritt von ihren administrativen Funktionen protestiert.

Die Staatsreserve an Atemschutzmasken hat sich durch den 2012 eingeleiteten Kurswechsel bis 2015 auf ein Drittel – exakt 416 Millionen Stück – verringert, und als im Januar die Coronavirusepidemie Frankreich erreichte, waren es nur noch 117 Millionen. Inzwischen schieben sich die Politiker der gegenwärtigen und der früheren Regierungen die Verantwortung für den Schutzmaskenmangel, den der bekannte Immunologe Professor Jean-François Delfraissy einen »Riesenskandal« nennt, gegenseitig zu. Oppositionspolitiker fordern, zur Klärung der Schuldfrage nach Abklingen der Epidemie einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuß einzusetzen.

Ralf Klingsieck, Paris

Paris am 24. März: Polizisten bei der Überwachung der Ausgangsbeschränkungen (Foto: JOEL SAGET/AFP)