Ausland03. Mai 2022

Skandal beim Internationalen Gerichtshof

Deutsche Bundesregierung verklagt Italien, um Entschädigungen für Opfer faschistischer Kriegsverbrechen zu verhindern

von Gerhard Feldbauer

Dem Internationalen Gerichtshof (IHG) dürfte ein Skandalprozeß ins Haus stehen. Mit einer in Den Haag gegen die Regierung Italiens eingereichten Klage will die gegenwärtige Führung der Bundesrepublik Deutschland die in Italien vor Gericht zugelassenen Forderungen von Opfern bzw. ihrer Hinterbliebenen nach Entschädigungen für die unter dem Besatzungsregime der faschistischen Hitlerwehrmacht begangenen Kriegsverbrechen abweisen.

In der Vergangenheit wurde die Bundesrepublik von Gerichten in Italien mehrfach wegen deutscher Verbrechen zu Einzel-Wiedergutmachungen verurteilt, die von deutscher Seite abgelehnt wurden. Zur Zeit laufen dazu über 25 Klagen. Zur Zahlung von Entschädigungen wollen italienische Gerichte jetzt Immobilien des deutschen Staates, darunter das Goethe-Institut, das Historische Institut, die deutsche Schule und das Archäologische Institut enteignen und zwangsversteigern. Die Urteile der italienischen Justiz sollen bis zum 25. Mai fallen.

Die BRD verweigert die Zahlungen mit der Begründung, der IGH habe 2012 entschieden, daß Deutschland italienische Nazi-Opfer nicht individuell entschädigen müsse. Entsprechende Urteile italienischer Gerichte seien deshalb unwirksam. Das Medienkonsortium »Quotidiano Nazionale« verweist dagegen auf das Urteil Nr. 238/2014 vom 22. Oktober 2014 des italienischen Verfassungsgerichts, das die Einhaltung des Urteils zwar anerkannte, es aber dem fundamentalen Grundsatz des gerichtlichen Schutzes der Grundrechte des italienischen Verfassungsrechts unterwarf, »Opfern von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit die Möglichkeit zu geben, individuelle Rechtsbehelfe gegen souveräne Staaten einzureichen«.

Eines der Kriegsverbrechen der faschistischen deutschen Besatzungstruppen in Italien, die in diesem Zusammenhang im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, ist die Ermordung von 335 Geiseln In den Ardeatinischen Höhlen bei Rom unter dem Kommando des SS-Chefs von Rom Herbert Kappler – das jüngste Opfer war 15 Jahre alt. Der am 20. Juli 1948 von einem Militärgericht in Rom zu lebenslanger Haft verurteilte Kappler konnte mit Hilfe westdeutscher Komplizen 1977 aus der Haft in die BRD fliehen. Die westdeutschen Justizbehörden verweigerten die von Rom geforderte Auslieferung.

Zu den Kriegsverbrechen, deren Opfer Entschädigungen fordern, gehört ein Massaker der 16. Panzer-Grenadierdivision »Reichsführer SS« in Marzabotto in der Toskana im Herbst 1944, wo 771 Menschen ermordet wurden. Im toskanischen Sant‘Anna di Stazzema ermordete die der Aufklärungsabteilung dieser SS-Division unter dem Kommando von Obersturmbannführer Walter Reder auf bestialische Weise 560 Einwohner. »Schwangeren Frauen wurde der Leib aufgeschlitzt, Kleinkinder in die Luft geworfen und auf sie wie auf Tontauben geschossen, andere mit Bajonetten durchbohrt«, heißt es in einem Augenzeugenbericht.

Von den Opfern waren 120 Kinder unter sechzehn Jahren und acht schwangere Frauen. Das jüngste Opfer zählte drei Monate, das älteste 86 Jahre. Die SS-Leute durchkämmten die Gehöfte und brannten die Gebäude nieder. 150 Einwohner wurden auf dem Kirchplatz zusammengetrieben und mit Maschinengewehren und Handgranaten regelrecht hingeschlachtet. Die Mörder schichteten die Leichen übereinander, übergossen sie mit Benzin, zündeten sie an und verstümmelten sie bis zur Unkenntlichkeit. Nur 350 Opfer konnten später identifiziert werden. Während des Überfalls befand sich kein einziger Widerstandskämpfer im Ort. Zuvor hatte dieselbe Einheit im Dorf Fivizzano in der Toskana etwa 400 Menschen ermordet.

Nach einer Schätzung einer deutsch-italienischen Historikerkommission aus dem Jahr 2012 wurden von den deutschen Besatzern in Italien bis zu 15.000 Zivilisten ermordet. Im statistischen Mittel wurden unter dem Besatzungsregime der Hitlerwehrmacht ohne die gefallenen Partisanen und regulären Soldaten einzubeziehen, täglich 165 Kinder, Frauen und Männer jeden Alters umgebracht. Der barbarische Terror machte auch vor italienischen Militärs und Mitgliedern der Königsfamilie nicht halt. Zu den im März 1944 in den Ardeatinischen Höhlen Ermordeten gehörten die Generäle Simoni, Fenulli und Castaldi sowie der Oberst Montezemolo, die antifaschistische Positionen bezogen hatten. Um sich an König Vittorio Emanuele III. zu rächen, ließ Hitler dessen Tochter Marfalda von Savoyen in die deutsche Botschaft in Rom locken und festnehmen. Sie wurde in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo sie ums Leben kam.

Die Mörder von Sant'Anna wurden wie in den meisten Fällen in der Bundesrepublik Deutschland nie zur Verantwortung gezogen. SS-Obersturmbannführer Reder konnte in Italien gefaßt werden und erhielt 1951 eine lebenslängliche Haftstrafe für das Massaker unter seinem Kommando an den in Marzabotto ermordeten Einwohnern. Für das Verbrechen in Sant'Anna wurde er »mangels Beweisen« freigesprochen. 1985 wurde er von der bundesdeutschen Justiz begnadigt.

In Civitella in der Toskana ermordeten Angehörige der Fallschirmjäger-Panzerdivision »Hermann Göring« Ende Juni 1944 weit mehr als 200 Männer, Frauen und Kinder. Wegen dieses Massakers hatte ein Gericht in Rom 2008 den Familien der Opfer das Recht auf individuelle Entschädigungen zugesprochen. Das war der Anlaß für die deutsche Regierung, den IGH anzurufen.

Als 2005 in Italien zehn der Verbrecher von Sant'Anna zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, verweigerte die Bundesrepublik Deutschland die Auslieferung der Verurteilten. 2012 stellte die Staatsanwaltshaft in Stuttgart die Ermittlungen gegen acht noch lebende SS-Angehörige ein. Ein Skandal ohnegleichen ereignete sich, als im März 2013 der damalige Bundespräsident Joachim Gauck Sant'Anna besuchte, »Versöhnung«, heuchelte, und gleichzeitig die Stirn hatte zu behaupten, »im Fall des Massakers von Sant'Anna reichten die Instrumente des Rechtsstaates nicht aus, um Gerechtigkeit zu schaffen«. Weder entschuldigte er sich noch verurteilte er das Blutbad. Das damalige bundesdeutsche Staatsoberhaupt hatte jahrelang keine Skrupel, Bürger der DDR, die sich nach Recht und Gesetz für ihren Staat auch auf antifaschistischen Positionen einsetzten, erbarmungslos mit allen Mitteln des »Rechtsstaates« zu verfolgen.

Man kommt nicht umhin, zu erwähnen, daß die deutsche Regierung samt CDU/CSU-Opposition derzeit dem russischen Präsidenten Kriegsverbrechen vorwirft und in Den Haag vor demselben Internationalen Gerichtshof anklagen will, vor dem sie es ablehnt, den Opfern der Kriegsverbrechen der Hitlerwehrmacht eine Entschädigung zu gewähren.