Deutschland als »Führungsmacht«
Die EU soll zum »geopolitischen Akteur« werden, dazu in ihrem Innern die »Reihen schließen« und ihre Militarisierung forcieren. Dies fordert der deutsche Kanzler Olaf Scholz in einem Namensbeitrag in der großbürgerlichen »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) vom Montag. Scholz kündigt für die kommenden Monate »konkrete Vorschläge« an und dringt schon jetzt auf die Abschaffung des Prinzips der Einstimmigkeit bei Beschlüssen in der Außenpolitik, mit dem kleinere Staaten zentrale Interessen gegen den Druck der mächtigen Mitgliedstaaten schützen können.
Ähnlich hat sich kürzlich der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil geäußert. Deutschland solle »nach knapp 80 Jahren« angeblicher »Zurückhaltung« jetzt »den Anspruch einer Führungsmacht haben«, verlangte er; das werde Berlin »harte Entscheidungen abverlangen«. Klingbeil drang nicht zuletzt auf eine massive Aufrüstung der Bundeswehr.
Sorgen bereitet Scholz wie auch Klingbeil, daß die Entwicklungs- und Schwellenländer dem alten Westen zunehmend die Gefolgschaft verweigern und eine eigenständige Politik entwickeln. Die Forderung, in Zukunft »geopolitische« Aktivitäten zu entfalten, kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem in der EU die Armut rasant zunimmt.
Die Sprache der Macht
Mit der Forderung, die EU müsse »zum geopolitischen Akteur werden«, schließt Kanzler Olaf Scholz an ähnliche Äußerungen führender Berliner Politiker in den vergangenen Jahren an. So hatte etwa der damalige Außenminister Sigmar Gabriel im Dezember 2017 beklagt, die EU sei noch »kein echter Faktor in der Welt«: Es mangele ihr »an der Machtentfaltung«. Umso »dringender« sei es deshalb nun, »daß Europa sich auf seine Interessen besinnt und Gestaltungsmacht erarbeitet«.
Halte in Zukunft »politisch-strategisches Denken« Einzug in Berlin und Brüssel, »dann stellen sich Machtfragen«, erklärte Gabriel: »Das wird nicht angenehm«. Im Februar 2018 bekräftigte der damalige Außenminister, die EU benötige »eine gemeinsame Machtprojektion in der Welt« – und zwar auch militärisch: »Als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfresser verdammt schwer haben.«
Im November 2019 schloß sich die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an. Für die EU gelte es, einerseits »eigene Muskeln ... in der Sicherheitspolitik« aufzubauen, andererseits mit Blick auf »die äußeren Interessen Europas strategischer« zu werden: »Europa muß auch die ‚Sprache der Macht lernen‘«, erklärte von der Leyen.
Innere Geschlossenheit
Um die EU jetzt endlich als »geopolitischen Akteur« zu positionieren, fordert der deutsche Kanzler Scholz politische »Geschlossenheit«: »Permanente Uneinigkeit, permanenter Dissens zwischen den Mitgliedstaaten schwächt uns.« Deshalb müsse »Schluß sein mit den egoistischen Blockaden europäischer Beschlüsse durch einzelne Mitgliedstaaten«. Auf den Krieg in der Ukraine habe die EU »mit bisher nie dagewesener Entschlossenheit und Geschlossenheit« reagiert; dies solle man nun fortsetzen. Es gelte jetzt, endlich auf lange umstrittenen »Feldern unsere Reihen zu schließen«, so etwa »beim Aufbau einer europäischen Verteidigung« oder »bei technologischer Souveränität«.
Scholz kündigt an: »Deutschland wird dazu in den nächsten Monaten konkrete Vorschläge machen.« In einem ersten Schritt greift der Kanzler eine Forderung auf, die schon seit Jahren von deutschen Außenpolitikern wiederholt wird: Es müsse Schluß sein mit dem Prinzip der Einstimmigkeit bei Entscheidungen in der Außenpolitik, wodurch auch kleinere Staaten gegebenenfalls zentrale Interessen gegen Druck der mächtigen Mitgliedstaaten schützen können. »Nationale Vetos ... können wir uns schlicht nicht mehr leisten«, schreibt Scholz, »wenn wir weiter gehört werden wollen in einer Welt konkurrierender Großmächte«.
Die Bundesrepublik Deutschland »im Mittelpunkt«
Die Forderung, das sogenannte Vetorecht aufzuheben, hatte erst kürzlich der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil bekräftigt und in einer Rede am 21. Juni geäußert, weil die EU »in der Lage sein« müsse, »schnell zu handeln«, müsse sie »das Einstimmigkeitsprinzip abschaffen, etwa in der Außenpolitik oder in der Finanz- und Fiskalpolitik«. Aus Berliner Sicht sei das zentral: »Deutschland kann nur stark sein, wenn Europa stark ist.« Die Bundesrepublik müsse daher »als Führungsmacht ... ein souveränes Europa massiv vorantreiben«.
Deutschland habe »nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung ... eine Rolle im internationalen Koordinatensystem«; die Bundesrepublik stehe heute »immer mehr im Mittelpunkt«: »Wir sollten diese Erwartungen erfüllen.« »Deutschland muß den Anspruch einer Führungsmacht haben«, forderte der SPD-Vorsitzende. Diese »neue Rolle als Führungsmacht« werde der Bundesrepublik jedoch »harte Entscheidungen abverlangen – finanzielle als auch politische«: »Wir müssen Strukturen verändern, auch Budgets neu verhandeln.«
Gestärkt werden müsse insbesondere das Militär, etwa mit dem 100 Milliarden Euro schweren »Sondervermögen« der Regierung Scholz. Es gelte »auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen«, behauptet Klingbeil, der die beschleunigte Militarisierung zur »Friedenspolitik« erklärt.
Doppelstandards des Westens
Erhebliche Sorgen bereitet Klingbeil und Scholz die Tatsache, daß die Entwicklungs- und Schwellenländer jenseits des alten Westens diesem zunehmend die Gefolgschaft verweigern. Zur Zeit ist dies vor allem im Machtkampf des Westens gegen Rußland der Fall, in dem sich die Staaten Afrikas, Lateinamerikas sowie beinahe ganz Asiens trotz extremen westlichen Drucks weigern, die Sanktionspolitik gegen Rußland zu übernehmen.
Scholz dringt darauf, den »Globalen Süden« eng an den Westen zu binden; dazu müsse man »unsere Zusagen gegenüber diesen Ländern einlösen« und »Doppelstandards vermeiden«.
Freilich basiert bereits die Forderung, Strafmaßnahmen gegen Rußland zu verhängen, auf doppelten Standards – schließlich war, wenn der Westen Angriffskriege führte (Jugoslawien 1999, Irak 2003, Libyen 2011), von Sanktionen gegen die damaligen Aggressoren in Westeuropa und Nordamerika nie die Rede. Um den Globalen Süden wieder enger an den Westen zu binden, schlägt Scholz konkret »eine neue globale Kooperation der Demokratien« vor – »und zwar über den klassischen Westen hinaus«.
Scholz‘ Vorhaben ähnelt dem »Summit for Democracy«, den USA-Präsident Joe Biden im Dezember vergangenen Jahres abhielt. Greifbare Resultate brachte der »Demokratiegipfel« nicht.
Mit langem Atem
Die Forderung, die EU mit der »Führungsmacht« Deutschland zum »geopolitischen Akteur« zu machen, erfolgt zu einer Zeit, zu der die westliche Sanktionspolitik im Machtkampf gegen Rußland die Energie- und Lebensmittelpreise dramatisch in die Höhe treibt und zu massiver Verarmung zu führen droht. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck hat erst kürzlich gewarnt, die eskalierende Krise werde »Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen« sowie die »gesellschaftliche Solidarität bis an die Grenze« strapazieren – »und wahrscheinlich darüber hinaus«.
Auswege böte lediglich das Umschwenken von einer fortdauernden Eskalation des Machtkampfs gegen Rußland hin zur Deeskalation und zu einer Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg. Dazu ist die Bundesregierung nicht bereit. Kanzler Scholz erklärt dazu in der »FAZ«: »Wir werden einen langen Atem brauchen.«