Ausland08. Oktober 2020

Britische Justiz will erst im Januar Urteil im Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange bekanntgeben

Weitere Monate Einzelhaft

Der Journalist und Wikileaks-Gründer Julian Assange bleibt weiter im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London eingesperrt. Erst am 4. Januar will Richterin Vanessa Baraitser vom britischen Strafgerichtshof »Old Bailey« ihr Urteil verkünden und bekanntgeben, ob der international bekannte politische Gefangene an die USA ausgeliefert wird oder nicht. Dort ist Assange für die Veröffentlichung hunderttausender Dokumente unter anderem über die USA-Kriege in Afghanistan und im Irak sowie das US-amerikanische Folterlager Guantanamo wegen »Spionage« angeklagt. Ihm drohen 175 Jahre Gefängnis – er würde »lebendig begraben«, wie es Stella Moris, Assanges Verlobte und Anwältin, im Interview mit der Zeitschrift »Stern« vergangene Woche formulierte.

Fast vier Wochen hat die zweite Anhörungsrunde im Londoner Auslieferungsverfahren gedauert. Der Zugang zum Verfahren war für die Öffentlichkeit beschränkter als bei Schauprozessen vor türkischen Gerichten, kritisieren Beteiligte. Unter dem Vorwand des Coronainfektionsschutzes war nur einer Handvoll Besuchern der Zugang gestattet, selbst die Verfolgung über eine Videoschalte war limitiert. Immer wieder fiel aber die Übertragung aus, waren Zeugen nicht zu verstehen. Assange selbst war wie schon im Februar in der ersten Anhörungsrunde wie ein Schwerverbrecher im Gerichtssaal von seinem Verteidigerteam abgetrennt in einen Glaskasten verbannt worden. Die unsäglichen Haft- und Prozeßbedingungen sind ganz offensichtlich Teil des Versuchs, Assange zu zermürben und gesundheitlich zu zerstören.

Rechtsanwältin Moris beschreibt die ganz normalen Schikanen gegen den prominentesten Dissidenten des Westens: »Sie wecken ihn um fünf, stecken ihn in eine Wartezelle und unterziehen ihn wenigstens viermal am Tag einer Leibesvisitation. Er trägt Handfesseln und wird mit einem dunklen Transporter quer durch die Stadt zum Gericht gebracht. Das dauert jeweils eineinhalb Stunden, eine physisch und psychisch zermürbende Prozedur. Außerdem wird er jeden Tag geröntgt, was mich sehr besorgt. (…) Trotz vorheriger Leibesvisitation. Was komplett unvertretbar ist und schlecht für seine Gesundheit. Es gibt ein paar Dinge da drinnen, die ich öffentlich gar nicht ansprechen sollte, weil sie sein Leben noch weiter erschweren könnten.«

Assange wird kaputtgemacht. Nach Angaben des Psychiaters Michael Kopelman ist er akut suizidgefährdet und hat in Haft Halluzinationen. Es gebe ein »hohes Risiko«, daß der 49-Jährige sich das Leben nehmen wolle, sollte der Australier an die USA ausgeliefert werden, so der Sachverständige vor Gericht, sein Urteil auf etwa 20 Besuchen in Belmarsh aufbauend. Der Sonderbeauftragte der UNO zum Thema Folter, Nils Melzer, warnt seit anderthalb Jahren, Assange weise alle Symptome psychischer Folter auf und müsse aus der Haft entlassen werden, um genesen zu können.

Die Anhörung im »Old Bailey« hat auch zu Tage gefördert, wie umfassend der Journalist in den Jahren seines Asyls in der Botschaft Ecuadors in London ausspioniert wurde. Der USA-Geheimdienst hatte demnach in Echtzeit Zugriff auf die Videoüberwachung der Botschaft. Für die akustische Überwachung waren Lasermikrofone im Einsatz. Vor allem Gespräche mit Rechtsanwälten waren für die USA von Interesse, aber auch Unterredungen mit Journali­sten, Parlamentariern und Freunden waren Teil der Dauerobservation.

Seitens der USA hat es den Angaben zufolge auch Überlegungen gegeben, »extremere Maßnahmen« einzusetzen. Diskutiert worden war demnach eine mögliche Entführung aus der Botschaft, aber auch eine Vergiftung Assanges (siehe auch Seite 2). Die brisanten Enthüllungen stammen von Mitarbeitern der spanischen Sicherheitsfirma Undercover Global, die ursprünglich von der ecuadorianischen Regierung mit dem Schutz ihrer Botschaft in London beauftragt worden war, dann aber »auf die dunkle Seite« gewechselt ist und den USA Rapport erstattet hat. Weil mutmaßlich auch deutsche Staatsbürger Opfer dieser illegalen Überwachung geworden sind, hat die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe die spanischen Behörden aufgefordert, ihre Ermittlungsergebnisse gegen UC Global weiterzuleiten.

Der frühere »Spiegel«-Mitarbeiter John Goetz und »Freitag«-Herausgeber Jakob Augstein sowie die 89-jährige USA-Reporterlegende Daniel Ellsberg, Enthüller der »Pentagon-Papers«, haben in ihren Aussagen vor dem Londoner Gericht ausdrücklich die journalistische Arbeit von Julian Assange und Wikileaks hervorgehoben. Mit dessen Verfolgung wird ein Exempel statuiert, die USA-Anklage ist auf Feldzug gegen die Pressefreiheit schlechthin.

Da hilft es auch wenig, wenn USA-Ankläger James Lewis in London mantragleich behauptet, Assange werde nicht wegen der Veröffentlichung militärischer und diplomatischer Geheimdokumente angeklagt, sondern wegen Gefährdung von USA-Informanten. Als Julian Assange in seiner Glasbox dagegen protestierte und laut vernehmbar erklärte: »Das ist Unsinn!«, wurde er von der Richterin abgewürgt und mit dem Ausschluß von der Verhandlung bedroht, sollte er noch einmal »stören«.
Während der Anhörungswochen hat sich Luiz Inácio »Lula« da Silva, Gründungsmitglied der brasilianischen Arbeiterpartei PT und von 2003 bis 2011 Präsident Brasiliens, in einem dramatischen Appell an die Öffentlichkeit gewandt: »Nicht nur die Mainstream-Medien, die gemeinsam mit Wikileaks die Washingtoner Geheimnisse geteilt haben, sondern alle Menschen und Institutionen, die sich für die Redefreiheit einsetzen, stehen nun vor einer entscheidenden Aufgabe: die sofortige Freilassung von Assange zu fordern. (…) Niemand, der an die Demokratie glaubt, darf es zulassen, daß jemand, der einen so wichtigen Beitrag zur Freiheit geleistet hat, dafür bestraft wird.«

Rüdiger Göbel

Demonstration in London für die Freilassung von Julian Assange in der Nähe des Zentralen Strafgerichtshofs »Old Bailey« (Foto: Kirsty Wigglesworth/AP/dpa)