Der Vorhang zu und alle Fragen offen
»Wir stehen selbst enttäuscht und sehen betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen«, heißt es am Schluß in Bertolt Brechts Drama »Der gute Mensch von Sezuan«. Es beschreibt das offene Ende, bei dem die Zuschauer mit der Frage zurückgelassen werden, wie das Problem der Ungerechtigkeit im Kapitalismus gelöst werden kann.
Nach der zweiten Runde des Dreiertreffens zwischen der Regierung, dem Patronat und den Gewerkschaften OGBL, LCGB und CGFP am Montag, dürfte es vielen der 25.000 Männer und Frauen, die am 28. Juni gegen die von der CSV/DP-Regierung geplanten arbeitsrechtlichen und sozialen Verschlechterungen auf die Straße gingen, ähnlich ergehen, denn das Treffen fiel mit dem Beginn der Sommerschulferien zusammen, und die weiteren Gespräche wurden auf den 3. September vertagt.
In den Verhandlungen gibt es mehr als ein Problem der Ungerechtigkeit zu lösen.
Dazu zählt, dass die Regierung das Leben von 50.000 Beschäftigten aus dem Einzelhandel und dem Lebensmittelhandwerk durch die Verlängerung der Sonntagsarbeit und der Liberalisierung der Öffnungszeiten vollständig durcheinanderwirbeln will. Dazu zählt auch, dass seitens der Regierung keine Bereitschaft besteht, über eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns und der Mindestrente, Zehntausenden aus der Armutsfalle herauszuhelfen.
Und schließlich geht es auch darum, zu verhindern, dass die Lebensarbeitszeit in der Praxis bis zu fünf Jahren erhöht wird und die Rentenleistungen im öffentlichen Rentensystem verschlechtert werden.
Es war nicht zu erwarten, dass in all diesen Fragen über Nacht Einigkeit erzielt würde, denn die arbeitsrechtlichen und sozialen Verschlechterungen, welche die Regierung aus dem Patronatsprogramm abgekupfert hat und ohne Diskussionen, geschweige denn Verhandlungen mit den Vertretern der Schaffenden und Rentner, durchboxen wollte, sind von langer Hand vorbereitet. Geradezu zynisch ist es, wenn der Premierminister nun so tut, als sei die Regierung, die nach der machtvollen Demonstration der 25.000 zurückrudern musste, eigentlich »Brückenbauer« zwischen den entgegengesetzten Interessen der Schaffenden und des Kapitals.
Wenn es den Gewerkschaften gelang, ihr exklusives Recht zu verteidigen, Kollektivverträge und Betriebsvereinigungen auszuhandeln und zu unterzeichnen, dann dank dem monatelangen Einsatz vieler Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und der Mobilisierung von 25.000 Schaffenden und Rentnern, so dass die Regierung bei Strafe des Auseinanderbrechens gar nicht anders konnte, als einen Rückzieher zu machen.
Wie verlautet, sollen am Ende der zweiten Runde des Dreiertreffens »erste konkrete Fortschritte« erzielt worden sein, und die Regierung soll neue Vorschläge in der Rentenfrage unterbreitet haben und bereit sein, ihre Positionen bei verschiedenen Punkten »zu überdenken«.
Die Schaffenden, die gegen die arbeitsrechtlichen und sozialen Verschlechterungen demonstrierten, wird es brennend interessieren, um welche »konkreten Fortschritte« und Vorschläge es sich handelt, damit sie sich ihre Gedanken dazu machen und gegebenenfalls mit ihren Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen, die sie für den 28. Juni mobilisierten und in die sie großes Vertrauen haben, darüber zu debattieren.
Bleibt zu hoffen, dass der Vorhang im September wieder hochgeht und alle Fragen im Interesse der Lohnabhängigen eine Antwort finden werden, andernfalls ein weiteres Mal mit dem Druck von der Straße nachgeholfen werden müsste.