Leitartikel17. Januar 2024

Die Armut gehört zu den Kollateralschäden des Kapitalismus

von Ali Ruckert

Das drastische Bettelverbot in der Hauptstadt, das seit Mitte Dezember 2023 in Kraft ist, schlägt inzwischen hohe Wellen, auch weil die Polizei seit kurzem »mit präventiven und repressiven Patrouillen« begonnen hat, auch Bettler zu kontrollieren, die nichts mit organisierter Bettelei zu tun haben, sondern auf der Straße leben und mit einem Pappschild und einem Becher Geld zum Überleben sammeln.

Dass das eine solche Wendung genommen hat, hat weniger damit zu tun, dass die Zahl der Bettler sich über Nacht vervielfacht hätte, sondern, dass wildgewordene Kleinbürger Verstärkung durch Law & Order-Politiker bekommen, die wie der Polizeiminister auch noch einer Partei angehören, die vorgibt, »christlich« und »sozial« zu sein, und deren Gewaltphantasien nun die Bedürftigsten zu spüren bekommen.

Wenn dann ein Mann wie der katholische Bischof Jean-Claude Hollerich, der nicht dafür bekannt ist, sich unbedacht zu äußern, sich »fast« an einen »repressiven Staat« erinnert fühlt, läßt das tief blicken, und die Repression gegen Bettler fordert zum heftigen Widersprich heraus.

Aber die Bettler sind nur die Spitze des Eisbergs der Armut hierzulande. Denn inzwischen hat jeder fünfte Haushalt im reichen Luxemburg Schwierigkeiten am Monatsende über die Runden zu kommen, jeder siebte Einwohner ist arm oder armutsgefährdet, die Kinderarmut wächst, und es gibt immer mehr Lohnabhängige, die dauerhaft in prekären Verhältnissen leben, obwohl sie acht Stunden am Tag hart arbeiten. Zur Armut hinzu kommen in vielen Fällen Scham, Ängste, Existenzbedrohung, schlechtere Bildungschancen und manchmal auch Krankheit, was wiederum den Teufelskreis der Armut verstärkt, auch wenn dies oft nicht nach außen sichtbar ist.

Anders als das hierzulande gerne Wohlstandsbürger und Diener des Establishments behaupten, ist Armut weit weniger auf individuelles Versagen zurückzuführen, als vielmehr ein Ergebnis der menschenfeindlichen Arbeits- und Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Spielregeln des kapitalistischen Systems in dem wir leben.

Im Mittelpunkt dieses Systems steht nicht die Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse, sondern der Bedürfnisse zahlungsfähiger Kunden, gekoppelt an die Jagd nach Maximalprofiten.

Die Armut gehört zu den Kollateralschäden, welche diese menschenverachtende Gesellschaftsordnung und ihre wirtschaftlichen und politischen Verfechter produzieren und die sie bestenfalls durch staatliche Transferleistungen und eine karitative Almosenpolitik einschränken, aber keineswegs beseitigen wollen.

Das heißt nicht, dass es im Rahmen dieses Systems nicht möglich ist, die Armut zu bekämpfen. Aus Erfahrung wissen wir, dass immer dann – zumindest kurzzeitig – Erfolge im Kampf gegen die Armut erzielt werden können, wenn es starke gewerkschaftliche, politische und soziale Bewegungen der Schaffenden für soziale Verbesserungen, höhere Löhne und mehr Bildungschancen gibt und entsprechende Reformen durchgesetzt werden.

Keine dieser Bewegungen vermochte es aber die Armut auf immer zu beseitigen, weil sie daran scheiterten, dass sie0 die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mechanismen, welche Armut immer wieder und in einem immer größeren Umfang produzieren, nicht außer Kraft setzten.

Ohne Abschaffung der kapitalistischen Verhältnisse, ohne Vergesellschaftung der Großbetriebe und Banken und daran gekoppelt, eine konsequente Umverteilung des geschaffenen Reichtums, wird das auch in Zukunft nicht möglich sein.