Ausland16. März 2024

Eine wertvolle Errungenschaft

Das Programm der Résistance von 1944 ist immer noch aktuell. Widerstand gegen die Demontage der sozialen Errungenschaften

von Ralf Klingsieck, Paris

Vor 80 Jahren, am 15. März 1944, haben die im Conseil National de la Résistance (CNR) zusammengeschlossenen Widerstandsorganisationen einstimmig ein Programm angenommen, das als Nahziel die durch Aufstände im Land unterstützte Befreiung Frankreichs von der Besetzung durch die faschistische deutsche Wehrmacht und die Abrechnung mit den Verrätern des Kollaborationsregimes von Vichy, sowie als Fernziel die Schaffung eines demokratischen und sozial gerechten Nachkriegs-Frankreich vorzeichnete.

Der CNR war bereits im Mai 1943 gebildet worden, um die Aktivitäten der politisch und geografisch sehr unterschiedlichen Organisationen der Résistance zu koordinieren. In seinem Programm vom März 1944, einer Broschüre mit knapp einem Dutzend Seiten und dem Titel »Für glücklichere Tage«, wurde einleitend betont, daß die im Kampf gegen die deutschen Besatzer und die französischen Verräter über die Parteigrenzen hinweg geschmiedete Einheit eine wertvolle Errungenschaft sei und unbedingt bewahrt werden müsse.

Die wichtigsten Ziele für das neue Frankreich seien die Durchsetzung einer echten Demokratie mit strikter Respektierung der Volkssouveränität mit Meinungs-, Presse- und Vereinigungsfreiheit sowie absoluter Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Dazu gehörte nicht zuletzt, daß Frauen endlich das Wahlrecht bekommen sollten.

Auf wirtschaftlichem Gebiet wurde eine zukunftsorientierte Planung der Volkswirtschaft und die Nationalisierung der Schwerindustrie, der Bodenschätze und der Großbanken gefordert, um Frankreich zügig wiederaufzubauen und die ökonomischen Grundlagen für soziale Verbesserungen und für einen Staat mit internationalem Ansehen zu sichern.

Breiten Raum nahmen im Programm soziale Maßnahmen ein, die von der Wiederherstellung der Gewerkschaftsfreiheit über generelle Lohnerhöhungen bis zum Aufbau eines in Frankreich immer noch fehlenden Sozialversicherungssystems reichten.

Dieses Programm wurde von der provisorischen Regierung 1944/1945 unter General de Gaulle, zu der zunächst auch zwei, später drei kommunistische Minister gehörten, als Leitschnur ihres Handelns genommen und schrittweise umgesetzt. Bei den Parlamentswahlen vom Oktober 1945 schnitt die Französische Kommunistische Partei (PCF) mit mehr als 26 Prozent der Stimmen am besten ab. Die drei Parteien, die wesentlich den CNR mitgetragen hatten – PCF, die sozialistische SFIO und die gaullistische MRP – erzielten zusammen rund 75 Prozent.

Doch die Verwirklichung des CNR-Programms wurde durch den im Westen entfachten Kalten Krieg und den immer stärker geschürten Antikommunismus abgebrochen. Die parteienübergreifende Einheit der einstigen Kameraden der Résistance zerbrach bald. Die nationalisierten Unternehmen wurden schrittweise reprivatisiert. Was – abgesehen von der wiedergefundenen bürgerlichen Demokratie – über Jahrzehnte einen gewissen Bestand hatte, waren die sozialen Errungenschaften und das Sozialversicherungssystem. Doch an den dafür nötigen Mitteln wollten die Konzerne und die unter ihrem Einfluß stehenden Regierungspolitiker sparen.

Es war ausgerechnet Charles de Gaulle, der Schirmherr des CNR, der reichlich 20 Jahre später als Präsident der Republik die Jagd auf die sozialen Errungenschaften eröffnete. Per Regierungsdekret kürzte er 1967 die staatlichen Zuwendungen für die Sozialversicherung. Außerdem »reformierte« er die Struktur ihrer Führung. Wurden deren Mitglieder bislang gewählt, so wurden sie von nun an eingesetzt. Hatten dort bis dahin nach dem Willen des CNR die Gewerkschaften mit drei Vierteln der Sitze die Mehrheit, so verfügten von nun an Unternehmerverbände und Gewerkschaften über die gleiche Anzahl.

Gegen diese »Reform« erhob sich eine Welle von Protestdemonstrationen und Streiks, aber Präsident de Gaulle setzte seinen Willen durch, so wie 2023 sein Amtsnachfolger Macron mit seiner »Rentenreform«. Die Rechnung folgte mit den Studentenunruhen vom Mai 1968 und dem sich anschließenden Generalstreik, durch den zahlreiche soziale Verbesserungen durchgesetzt wurden mit Lohnerhöhungen um bis zu 30 Prozent. Das war mehr, als dann 1981 die Regierung des ersten sozialistischen Präsidenten François Mitterrand gewährte.

Doch je mehr der Neoliberalismus an Boden gewann, umso unverhohlener wurden die Angriffe auf die sozialen Errungenschaften, die von 1944, von 1968 und von 1981. So erklärte 2007 Denis Kessler, der Vorsitzende des Unternehmerverbands MEDEF: »Das Sozialmodell Frankreichs ist noch geprägt durch den Gaullismus und die Kommunisten. Es ist ein echtes Produkt des CNR und völlig überholt. Wir müssen 1945 endlich hinter uns lassen und das Programm des CNR systematisch tilgen.«

Der aktuelle Staatspräsident Emmanuel Macron hat 2016, als er noch Wirtschaftsminister unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande war, gesagt: »Das Modell der Nachkriegszeit funktioniert nicht mehr. Der politische, ökonomische und soziale Konsens von 1945 ist veraltet und hinfällig.«

Doch das sehen die Gewerkschaften und die linken Parteien ganz anders. Für sie stehen die sozialen Errungenschaften des CNR-Programms nach wie vor im Zentrum des sozialen Modells Frankreichs, und sie kämpfen dafür, daß das so bleibt.

Sophie Binet, die Generalsekretärin der Gewerkschaft CGT, ruft in einem Text zum 80. Jahrestag dazu auf, sich »durch das Programm des CNR inspirieren zu lassen in Momenten der Klärung der Standpunkte und wenn es gilt, alle Kräfte zu sammeln und enger zusammen zu rücken, um dem Neoliberalismus und dem Rechtsextremismus die Stirn zu bieten«.