Die dritte Front
Auf die westliche Boykottkampagne gegen Sportler, Künstler und Medien aus Rußland folgen Attacken auf Russen und auf russische Einrichtungen
Nach dem umfassenden Ausschluß russischer Sportler, Künstler und Medien aus der westlichen, teils globalen Öffentlichkeit droht eine Welle physischer antirussischer Gewalt. Zuvor war eine Boykottkampagne angeschwollen, die sich gegen die Teilnahme von Russen an internationalen Sportveranstaltungen richtet und den Ausschluß russischer Filme von Filmfestivals und russischer Künstler von Konzerten propagiert; in einem Aufruf aus der Ukraine heißt es, es dürften weltweit keine Bücher russischer Autoren oder russischer Verlage mehr verkauft werden, da diese eine »Infektion« der Leser mit »russischer Propaganda« hervorriefen. Die britische Kulturministerin Nadine Dorries spricht offen von einer »dritten Front im Ukraine-Krieg« – neben Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen.
Die Macht des Sports
Als »dritte Front im Ukraine-Krieg« hatte vergangene Woche die britische Kulturministerin Nadine Dorries die Maßnahmen zum möglichst vollständigen Ausschluß russischer Sportler, Künstler sowie Schriftsteller aus der Öffentlichkeit bezeichnet, die die westlichen Staaten gegenwärtig weltweit durchzusetzen suchen. Anlaß waren Dorries‘ Bemühungen, möglichst viele Sportverbände und -organisationen zu veranlassen, russische Sportler ohne individuelle Begründung lediglich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit zu diskriminieren und sie nicht an Sportveranstaltungen, darunter die Paralympics, teilnehmen zu lassen. Dazu war die Ministerin mit ihren für Sport zuständigen Kollegen etwa aus Deutschland, Polen, den USA und Australien zu einer Onlinekonferenz zusammengetroffen.
»Ich übe weiterhin Druck aus, daß Organisationen Putins Rußland aus ihren Reihen verbannen«, teilte Dorries mit: Es gehe darum, »die Macht des Sports« zu nutzen, um »Putin zuhause und im Ausland zu isolieren«. Den westlichen Mächten ist es inzwischen gelungen, zahlreiche prominente Ausschlüsse nicht nur von Sportlern und Teams durchzusetzen, die unter russische Flagge antreten, sondern auch von Einzelpersonen, denen lediglich vorgeworfen wird, Russen zu sein.
Ausschlüsse
Ausschlüsse beschlossen haben neben den Paralympics etwa die Fußballverbände FIFA und UEFA sowie die International Tennis Federation. Auf kulturellem Gebiet hat zum Beispiel die Europäische Filmakademie angekündigt, russische Filme würden bei den diesjährigen European Film Awards nicht zugelassen. Russische Filmtage wurden in mehreren deutschen Städten (Düsseldorf, Münster) abgesagt. Die Konzerne Disney und Warner boykottieren russische Kinos. Prominente russische Künstler wie der Dirigent Waleri Gergijew oder die Sängerin Anna Netrebko haben Aufträge oder gar ihre Arbeitsstelle verloren, weil ihnen – zutreffend oder nicht – unterstellt wird, sich nicht von der russischen Regierung zu distanzieren. In einem Fall wurde bereits eine Operette des russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch komplett vom Spielplan genommen: Sie spielt in der russischen Hauptstadt. Mittlerweile kommt der demonstrative Ausschluß russischer Waren aus Supermärkten hinzu.
Nicht zugelassen
Ausgeschlossen wurden in der vergangenen Woche etwa auch russische Bücher von der nächsten Frankfurter Buchmesse. Die Buchmesse teilte mit, sie werde zumindest in diesem Jahr den russischen Nationalstand – anders als die Nationalstände aller sonstigen Staaten – nicht zulassen. Zur Begründung für ihr Verbot teilten die Organisatoren mit, in Rußland gerieten »die bislang noch verbliebenen Reste einer liberalen Öffentlichkeit ... massiv unter Druck«; deshalb sei es angemessen, auch in Deutschland repressiv vorzugehen.
Weiter behaupten die Organisatoren, die Maßnahme richte sich »nicht gegen russische Autorinnen und Autoren und die Zugänglichkeit von deren Buchproduktion«; »Einzelstände von russischen Verlagen« werde man »weiterhin zulassen«. Allerdings sei das wohl lediglich »eine theoretische Möglichkeit«, weil »angesichts der verhängten Sanktionsmaßnahmen« – »eingeschränkter Zahlungsverkehr, Einschränkungen des Flugverkehrs etc.« – private russische Verlage in der Praxis keine Chance hätten, nach Deutschland zu reisen. Wie es in einem Aufruf von insgesamt vier ukrainischen Literaturorganisationen, darunter der PEN Ukraine, heißt, folgte die Buchmesse mit dem Verbot einer litauischen Initiative.
Bücher als Waffe
In dem Aufruf, der in der vergangenen Woche vom Börsenblatt des Deutschen Buchhandels verbreitet wurde, fordern die ukrainischen Unterzeichner den weltweiten Boykott sämtlicher russischen Bücher und Verlage. Konkret sollen keine Bücher russischer Autoren oder russischer Verlage mehr verkauft werden, weder offline noch online; außerdem sollen keine Rechte russischer Verlage mehr erworben werden. Stipendien für Übersetzungen russischer Werke in andere Sprachen müßten sofort eingestellt werden. Zur Begründung für den »totalen Boykott« russischer Bücher heißt es, in sie sei »russische Propaganda« eingewoben, die sie »zu Waffen und Vorwänden für den Krieg« mache: »Von der russischen Propaganda im Bereich von Literatur und Verlagswesen angesteckt, verbreiten viele Autoren, Literaturagenten, Verleger und Distributoren aus aller Welt die Infektion unter immer mehr Lesern in ihren Ländern«.
Daher gelte es nun, auch auf literarischem Gebiet »Rußland in vollem Umfang zu isolieren und es an weiterer Expansion mit den Mitteln kultureller Instrumente zu hindern«. Der Aufruf ist in Deutschland noch als zu weitgehend empfunden und kritisiert worden. Er ist mit der Parole »Ruhm der Ukraine!« versehen, die inzwischen auch im Westen weithin verwendet wird. Dabei handelt es sich um die erste Hälfte der Grußformel der ukrainischen Faschisten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Medienverbot
Zum weitreichenden Ausschluß alles Russischen aus Sport und Kultur kommen das Verbot russischer Medien sowie massive Einschränkungen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit hinzu. Die EU hat in der vergangenen Woche die Verbreitung sämtlicher Inhalte der staatlichen russischen Sender RT und Sputnik verboten; das Verbot ist dabei so weitreichend formuliert, daß nach Auffassung von Fachleuten Internetanbieter im Prinzip Netzsperren einrichten müßten.
Damit greift Brüssel erstmals zu offener Zensur. Längst ist auch die Wissenschaft von Ausschlußmaßnahmen betroffen. Zuletzt hat – etwa nach dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) und anderen Wissenschaftsorganisationen – die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) alle deutsch-russischen Kooperationsprojekte auf Eis gelegt. Zahlreiche Universitäten haben sich darüber hinaus in Eigeninitiative dem offiziösen Rußlandboykott angeschlossen. Dabei wird allerdings betont, man wolle Studierende aus Rußland nicht exmatrikulieren.
»Russenpack«
Inzwischen melden die Innenministerien mehrerer deutscher Bundesländer und einige Polizeibehörden einen Anstieg physischer antirussischer Gewalt. So wurden zum Beispiel russische Geschäfte beschmiert und beschädigt; in den sozialen Netzwerken wird ein Drohbrief verbreitet, in dem es heißt: »Russenpack, haut endlich hier aus Deutschland ab«. Laut einem Bericht von »Report Mainz« gehen verschiedene Innenministerien von einem weiteren Anstieg der Gewalt aus. So wird etwa eine Einschätzung aus Baden-Württemberg zitiert, »bei der Polizei seien weitere Fälle von Sachbeschädigungen, Vandalismus, verbale Provokationen und körperliche Auseinandersetzungen bereits einkalkuliert«.