Durch Praxiserfahrungen Corona in den Griff bekommen
Wissenschaftsrat zieht kritische Bilanz der Epidemie in Frankreich
Die Corona-Pandemie in Frankreich ist längst noch nicht zu Ende, aber die medizinische Wissenschaft hat in der Praxis so viele Erfahrungen gesammelt, daß das Virus beherrschbar geworden ist und der Mensch auf Dauer mit ihm leben kann. Das ist die Bilanz, die der Medizinprofessor und Immunologe Jean-François Delfraissy, der Vorsitzender des von der Regierung im Frühjahr 2020 als Beratungsgremium eingesetzten Wissenschaftsrates war, aus Anlaß von dessen Auflösung zum 1. August gezogen hat.
Mit diesem Tag endeten in Frankreich auch alle coronabedingten Einschränkungen mit Ausnahme der Impfpaßpflicht für Reisende aus bestimmten Ländern oder für Franzosen, die sich dorthin begeben wollen.
»Im Rückblick müssen wir vieles bedauern, aber was wäre auch anderes zu erwarten gewesen bei der Bekämpfung einer so neuartigen und so breiten Epidemie«, meinte Professor Delfraissy. »Ich hätte nie gedacht, daß sie so lange dauern und so viele immer neue Formen annehmen würde.« Als größten Erfolg wertete er, daß durch die Impfung der übergroßen Mehrheit der Franzosen eine solide kollektive Immunität geschaffen wurde, mit der die Dynamik der Epidemie gebrochen und ihre erfolgreiche Bekämpfung eingeleitet werden konnte.
Im Rückblick bedaure er am meisten den Umgang mit den Menschen in den Pflegeheimen und deren Angehörigen. »In der Überzeugung, das Beste für sie zu tun, haben die Direktoren der Pflegeheime und die Behörden die Gesundheit über die Menschlichkeit gestellt«, urteilte er. »Sicher war es von Fall zu Fall unterschiedlich und schwierig einzuschätzen, wann die Pflegeheime nach dem Rückgang der einzelnen Epidemiewellen wieder für die Angehörigen geöffnet werden konnten, aber mit der Absicht, vorzubeugen, wurde hier sicher oft kalt und herzlos entschieden«, meinte der Wissenschaftler. So seien zusätzlich zu den schwer an Corona Erkrankten auch nicht wenige Alte an Kummer und Resignation gestorben, weil sie so lange – und sicher oft länger als nötig – von ihren Familienangehörigen getrennt waren.
»Natürlich war das eine ganz außergewöhnliche Epidemie und vor allem in den Monaten März, April und Mai 2020, als schnell gehandelt werden mußte, tasteten wir uns mit erst bruchstückhaften Kenntnissen über den Virus und die Möglichkeit seiner Bekämpfung voran«, stellte er fest. »In dieser Situation hätte man sich insbesondere hinsichtlich der Regelungen für die Schulen und für die alten Menschen mit der Masse der Franzosen konsultieren und ihre Meinung einholen sollen. Doch das wollten die Politiker nicht tun.« Professor Delfraissy bedauerte, daß so eine Chance vertan wurde, die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit für die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu gewinnen, und daß man viel zu oft das Feld wissenschaftsfeindlichen Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern überlassen hat.
»Zweifellos wird es neue Wellen der Corona-Epidemie geben, schon im kommenden Herbst und Winter, aber die menschliche Intelligenz wird letztlich die Möglichkeiten des Virus beherrschen«, zeigte sich der Professor überzeugt. »Das Virus wird auf Dauer da sein, mit seiner Fähigkeit, zu mutieren und sich zu verändern. Seine Evolution ist längst noch nicht abgeschlossen. Das erklärt auch seine ungewöhnliche und anhaltende Dauer.«
Der Wissenschaftler ist aber zuversichtlich, daß die Menschen mit dem Virus und seinen Varianten leben können. »Im Vergleich zu 2020, als wir praktisch noch nichts wußten, ist die Wissenschaft seitdem gewaltig vorangekommen. Wir haben inzwischen wirksame Impfstoffe zur Vorbeugung und Medikamente zur Bekämpfung der Krankheit, und wir können immer besser auf die sich neu stellenden Fragen und Probleme antworten und reagieren.«
Mit dem Virus zu leben bedeute aber auch, »eine nicht unbeträchtliche Zahl von schweren Formen der Krankheit und von Toten zu akzeptieren, wenn dafür das wirtschaftliche und soziale Leben ungestört weitergehen kann und die Einschränkungen der individuellen Freiheiten fallen«. Man müsse sich im Klaren darüber sein, daß dies auf Kosten der gesundheitlich anfälligsten Menschen und vor allem der Alten gehe. Der Professor verwies in diesem Zusammenhang darauf, daß auch im Juli noch täglich rund 100 Menschen in Frankreich an und mit Corona gestorben sind und zu den bereits mehr als 150.000 Toten seit Beginn der Epidemie Anfang 2020 hinzugekommen sind.
Abschließend würdigte Jean-François Delfraissy das große Engagement der Mediziner und Wissenschaftler, die im Wissenschaftsrat mitgearbeitet und hier ihre Erfahrungen eingebracht haben. Das sei sicher eine nützliche Grundlage für den neuen Expertenrat, den die Regierung auf ihre Anregung hin in Kürze berufen will und der sie bei neuen Epidemien und anderen medizinischen Problemen größerer Art beraten soll.