Ausland08. Juni 2021

Erdogan will im Irak »aufräumen«

Türkischer Angriff auf ein Flüchtlingslager

von Karin Leukefeld, Beirut

Die türkische Armee hat am Wochenende ein Flüchtlingslager im Nordirak angegriffen. Das Lager Makhmur, auch bekannt als »Martyr Rustam Cudi« Camp, liegt 180 Kilometer von der irakisch-türkischen Grenze entfernt in der Niniveh Ebene südlich des Ortes Makhmur.

Verschiedene kurdische Medien berichteten übereinstimmend, daß der Angriff sich am frühen Samstagnachmittag ereignete. Demnach wurde mindestens eine Rakete von einer Drohne auf ein Parkgelände abgefeuert, in dem sich normalerweise viele Familien und Kinder aufhalten. Auch die Schulen des Makhmur Lagers sollen sich in diesem Bereich befinden, hieß es. Es wurden drei Personen getötet und zwei verletzt. Erst im April waren bei einem türkischen Drohnenangriff auf das Lager drei Frauen getötet worden.

Die Vertretung der Bewohner des Makhmur Lagers brachte vor kurdischen Pressevertretern ihre Empörung über den türkischen Angriff auf ihr Lager zum Ausdruck. Der Grund, warum sie vor 28 Jahren im Irak Zuflucht gesucht – und gefunden – hätten sei, daß sie die Unterdrückung des türkischen Staates nicht akzeptierten und auch weiterhin nicht akzeptieren würden.

Dann zogen die Bewohner zum Kontrollpunkt der irakischen Streitkräfte, wo sie nach einer Schweigeminute für die Todesopfer eine Erklärung verlasen. Man sei weiterhin bereit, mit der UNO, mit der irakischen Regierung und mit der Kurdischen Demokratischen Partei, KDP zusammenarbeiten, erklärte Haci Kacan vom Vorstand der Lagervertretung. Leider hätten die KDP und die NATO-Streitkräfte das Lager »schon dutzende Male« angegriffen. Man hoffe, daß die irakische Armee Makhmur vor weiteren Angriffen der Türkei schützen werde. Trotz aller Angriffe habe aber die Bevölkerung »eine klare Haltung gezeigt«, so Kacan weiter. »Wir werden weiter gegen die Eindringlinge kämpfen«, sagte er in Richtung Türkei.

In zahlreichen europäischen Städten protestierten Kurden mit Kundgebungen und Demonstrationen gegen den Angriff auf das Flüchtlingslager und gegen die türkische Militäroffensive im Irak.

Die türkische Regierung behauptet, das Lager Makhmur sei eine Basis der in der Türkei verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die Ankara als »größte Bedrohung für die nationale Sicherheit« einstuft. Die PKK ist in den Mitgliedstaaten der NATO als »Terrororganisation« verboten und wird vor allem in Deutschland ähnlich wie in der Türkei massiv kriminalisiert. Die USA-Truppen fanden allerdings im Kampf gegen den »IS« in den gut ausgebildeten PKK-Kämpfern im Norden Syriens wertvolle Partner, die sie seit 2015 militärisch, politisch und finanziell auch gegen die Regierung in Damaskus unterstützen. Dieses Vorgehen hat das Verhältnis zwischen den NATO-Partnern USA und Türkei erheblich belastet.

Von kurdischer Seite wurde der Angriff auf Makhmur in Verbindung mit einer massiven Militäroperation der türkischen Armee gebracht, die seit Wochen die kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak erschüttert. Lokale und internationale Nichtregierungsorganisationen und die irakische Regierung werfen der Türkei vor, im Norden des Irak in großem Umfang Bäume zu fällen und damit schweren ökologischen und wirtschaftlichen Schaden anzurichten. 7.000 Donum Land (1 Donum = 1.000 Quadratmeter) seien niedergebrannt, 1.300 Bienenstöcke seien vernichtet worden. Ein Wasserprojekt, das neun Dörfer mit Trinkwasser versorgt habe, sei ebenfalls von der türkischen Armee zerstört worden.

Angriffe gegen zivile Infrastruktur und auf die Zivilbevölkerung seien unakzeptabel, hieß es in einer Erklärung der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation »Team der christlichen Friedensstifter« (CPT), die in den kurdischen Autonomiegebieten im Nordirak eine Niederlassung unterhält. Mindestens 1.500 Personen aus 22 Dörfern in der nördlichen kurdisch-irakischen Provinz Dohuk seien von der türkischen Luftoffensive vertrieben worden. Man wisse nicht, ob die Menschen jemals zurückkehren könnten, da die türkische Armee in den Dörfern Militärposten errichtet habe.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat angekündigt, mit der Militäroffensive das Gebiet »säubern« und die Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, »auslöschen« zu wollen, die im nordirakischen Qandil-Gebirge, dessen östliche Ausläufer sich in den Iran erstrecken, seit Jahrzehnten Ausbildungslager unterhält. Ziel der Offensive sei, die PKK-Verbindung von den Qandil-Stützpunkten über das Gebiet Sinjar – ein mehrheitlich von Jesieden bewohntes Gebiet zwischen Mossul und der irakisch-syrischen Grenze – über den Grenzübergang Rabia bis in den Nordosten Syriens zu unterbrechen. Kritiker werfen Erdogan allerdings vor, mit der Offensive von innenpolitischen und vor allem von den massiven wirtschaftlichen Problemen in der Türkei ablenken zu wollen.

Während eines Live-Interviews im staatlichen türkischen Sender TRT hatte Erdogan erst am 2. Juni das Lager Makhmur als eine ebenso große »Bedrohung« für die Türkei bezeichnet, wie die PKK-Stützpunkte im Qandil. Makhmur sei »der Brutkasten für Qandil«, so Erdogan. Wenn die UNO das Lager »nicht aufräumt, werden wir als UNO-Mitglied das tun«, sagte er.

Die UNO betreut seit vielen Jahren – wie in anderen Flüchtlingslagern auch – Schulen und Gesundheitszentren in Makhmur und unterstützt die Flüchtlinge mit Hilfsgütern. Entstanden war das Lager 1998, nachdem rund 12.000 Kurden aus der Türkei in den Nordirak geflohen war, um den türkischen Truppen und deren »Kampagne der verbrannten Erde« im Südosten der Türkei zu entkommen. Monatelang waren die Menschen durch den Nordirak geirrt, bevor sie schließlich – unter dem Schutz der irakischen Regierung des damaligen Präsidenten Saddam Hussein und der UNO – ihr Lager südlich des Ortes Makhmur einrichten konnten.

Seit 2003 – nach dem militärisch von den USA und Verbündeten erzwungenen Sturz von Saddam Hussein – wird die Niniveh-Ebene von der kurdischen Autonomieregierung in Erbil beansprucht. Die Ebene liegt – wie auch der Ort Makhmur – in einem zwischen Erbil und Bagdad »umstrittenen Gebiet«. Aus dem Lager und dem ursprünglichen Dorf Makhmur ist eine Kleinstadt mit rund 23.000 Einwohnern geworden.

Der irakische Präsident Barham Salih verurteilte den türkischen Drohnenangriff auf das Lager Makhmur als »gefährlichen Schritt«. Ein Angriff auf die Zivilbevölkerung, darunter viele Flüchtlinge, verstoße gegen das humanitäre Völkerrecht und werde verurteilt.