Die Ukraine als fette Beute fürs Kapital
Ahnungslosigkeit, Geschichtsvergessenheit und Mangel an geographischen Kenntnissen sind Voraussetzung für heutige deutsche Rußland-Politik
Unter der Überschrift »Die Ukraine muß NATO-Mitglied werden« machte der deutsche CDU-»Außenpolitiker« Norbert Röttgen am 3. Mai in einem Gastbeitrag in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) eine »strategische Fehleinschätzung« im Westen aus, »die sich die letzten 14 Monate durch die Diskussionen über Waffenlieferungen gezogen« habe. Es gehe »um die ›Was macht Rußland, wenn…‹-Frage« wie jetzt bei der Lieferung westlicher Kampfflugzeuge an Kiew. Röttgen: »Dabei macht Rußland immer dasselbe: den Krieg so weiterführen wie zuvor. Denn Putin hat keine andere Option, weil er weder aufhören will noch eskalieren kann. Letzteres würde ihn das Wohlwollen der Chinesen kosten und hätte eine robuste Reaktion der Amerikaner zur Folge.«
Denn im Grunde kann der Russe nicht mehr, weil »wir« ihn im Griff haben. Risiken müßten abgewogen werden, aber die wären ungleich größer, wenn die Ukraine diesen Krieg nicht gewinne: »Ab dann kann die Ukraine verhandeln.« Bis Rußland von seinem »imperialen Nationalismus« lasse, bedürfe es in Europa einer Sicherheitsarchitektur, die vor Rußland Schutz biete: »Für die Ukraine kann das nur die Mitgliedschaft in der NATO bedeuten.«
Die »unverzichtbaren gewaltigen privaten Investitionen«, endet Röttgens Text, könnten auch nur erfolgen, »wenn die Investoren auf die Sicherheit des Landes vertrauen können«. Dem deutschen Ostpolitiker tropft wie einst vom Kaiserreich bis zum Führer der koloniale Zahn. Die Ukraine bleibt eine fette Beute fürs Kapital, das heute »Investor« heißt. Und die NATO erhält endlich einen Sinn nach der Gründungsdevise des von den USA nach 1945 geretteten deutschen Imperialismus: nie mehr allein in den Krieg gegen Rußland, aber kein Krieg ohne uns.
Am 8. Mai veröffentlichte die »FAZ« dazu den Leserbrief »In die Lage Rußlands hineinversetzen« des pensionierten Bundeswehr-Generalmajors Jürgen Reichardt. Der fragte einleitend: »Als die Truppen des Warschauer Paktes an der Elbe standen, sah Herr Röttgen keine Veranlassung, nach dem Abitur zur Verteidigung unserer Freiheit Wehrdienst zu leisten. Heute, wo viele hundert Kilometer NATO-Gebiet zwischen uns und Rußland liegen, hält er alle denkbaren wirtschaftlichen und militärischen Anstrengungen ›unterhalb der Schwelle des eigenen Kriegseintritts‹ für notwendig, Rußland niederzuringen. Kämpfen und bluten sollen allerdings die Ukrainer, so lange wie – ja, wie lange?«
Reichardt reibt dem Ungedienten unter die Nase: »Hätte sich Herr Röttgen seinerzeit zum Reserveoffizier ausbilden lassen, wäre ihm das Führungsprinzip der Lagebeurteilung vertraut: der Kräftevergleich, die eigene Lage, vor allem aber die Beurteilung der Feindlage. Sie verlangt, sich in dessen Lage, Absichten und Denkweise hineinzuversetzen, um genau den hier vorliegenden Fall von spekulativen Unterstellungen und Wunschdenken zu vermeiden.« Glaube Röttgen mit seiner Perspektive, »eine Atommacht zur Kapitulation bewegen zu können?«
Es sei »leichtfertig und unbedacht«, davon auszugehen, daß »›Rußland immer so weitermachen‹« würde wie bisher und »keine Option der Eskalation habe«. Reichardt fragt schließlich, was eine Ukraine in der NATO für Rußland bedeuten würde: »US-Mittelstreckenwaffen an seiner Grenze, ohne auf dieser Ebene antworten zu können.« Und was bedeute die NATO-Mitgliedschaft im Fall eines militärischen Konflikts für die Bundesrepublik? Die Antwort: »(…) wieder deutsche Soldaten am Dnjepr, wie 1917 und 1941. Weiß Norbert Röttgen, wie viele deutsche Soldaten in ukrainischer Erde ruhen? Riesige Soldatenfriedhöfe zeugen davon.«
Ahnungslosigkeit, Geschichtsvergessenheit und Mangel an geographischen Kenntnissen sind aber, wäre zu ergänzen, erste Voraussetzung für heutige deutsche Rußland-Politik. Generäle kennen sich da bildungsmäßig besser aus. Ist zu hoffen.