Ausland04. Juni 2020

US-amerikanische Visionen

Mit Hilfe der Kurden soll der Einfluß der USA in Syrien gesteigert werden

Verhandlungen zwischen Rußland und der Türkei, der syrischen Armee und den kurdisch dominierten Demokratischen Kräften Syriens (SDF) machten es möglich, ein Teilstück der Autobahn M4 von Latakia nach Kamischli im Norden Syriens wieder zu eröffnen. Private Fahrzeuge können – vorerst nur im Konvoi – unter dem Schutz der russischen Militärpolizei die Autobahn nutzen. Die Verbindung zwischen den Städten Aleppo, Hasaka und Raqqa wird damit deutlich erleichtert. Auch private Reisen aus den Gebieten unter Kontrolle der SDF ins Regierungsgebiet und umgekehrt sind möglich.

Viele Kräfte sind im Norden Syriens aktiv und die Versuche, die Situation auszunutzen und zu beeinflussen, gehen über die unmittelbar aktiven Mächte Türkei, Rußland und USA hinaus. Ägypten und Saudi-Arabien weiten ihre Unterstützung für die SDF aus, weil sie hier die Möglichkeit sehen, dem wachsenden Einfluß der Türkei in der Region Einhalt zu gebieten.

Die USA bringen illegal immer mehr Nachschub in die Gebiete unter Kontrolle der kurdisch dominierten SDF für ihre zahlenmäßig kleinen Garnisonen. Die vermutlich etwa 1.000 USA-Soldaten sollen nicht nur die syrische Regierung daran hindern, die Kontrolle über die Ölquellen zu übernehmen. Sie sollen permanenten Druck auf die Regierung in Damaskus und die Russische Föderation ausüben. Dazu gehört, daß USA-Truppen hin und wieder russische Patrouillen in ihrer Fahrt behindern.

Auch die russische Armee baut neue Stützpunkte im Nordosten Syriens aus und setzt damit ihrerseits die USA-Truppen unter Druck. Es mehren sich Fälle, in denen aufgebrachte Einwohner von Ortschaften USA-Fahrzeuge behindern, auch russische Checkpoints lassen USA-Fahrzeuge gelegentlich nicht passieren. Und bisher zweimal zwangen Checkpoints der syrischen Armee USA-Militärfahrzeuge zur Umkehr.

Die USA beschränken sich nicht auf Geplänkel mit russischen Konvois, sondern versuchen, die politischen Entwicklungen weiter in ihrem Sinne zu beeinflussen – mit ihrem Einfluß auf Verhandlungen zwischen entzweiten kurdischen Gruppen.

Der Kurdische Nationalkongreß (KNC) Syriens wurde 2011 unter der Ägide des damaligen Präsidenten des irakischen Autonomiegebietes gegründet. Er hat seinen Einfluß unter syrischen Kurden weitgehend verspielt und ist mit der Partei der Demokratischen Union (PYD) seit langem zerstritten. Die PYD wirft dem KNC Zusammenarbeit mit der Türkei vor, während er umgekehrt der PYD diktatorisches Verhalten und die Verfolgung von Oppositionellen vorwirft. In der Vergangenheit gab es mehrere Abkommen zwischen den beiden Gruppen, die aber nicht umgesetzt wurden.

Ende letzten Jahres begannen KNC und PYD erneut mit nicht öffentlichen Verhandlungen über ihre zukünftigen Beziehungen. Anfang Mai förderte William Roebuck, ein hoher Beamter des USA-Außenministeriums, die Verhandlungen vor Ort in Syrien. Mit einer Einigung sollte die PYD Einfluß auf künftige Verhandlungen unter dem Schirm der UNO gewinnen. Der KNC ist Teil der Opposition, die der Türkei nahesteht, und bereits in UNO-Verhandlungen eingebunden. Für die USA wäre die Teilnahme ihrer engsten Verbündeten an solchen Verhandlungen – und in dieser Konstellation – ein Gewinn.

Grundlage für die Verhandlungen zwischen KNC und PYD war eine »Vision« für Syrien. Wie ein anonymer Teilnehmer an den Gesprächen berichtete, kam der Entwurf aus dem USA-Außenministerium. Zu einer direkten Einigung ist es dennoch bisher nicht gekommen.

Jenseits von »Visionen« bietet die Eröffnung der Autobahn M4 ganz praktisch die Möglichkeit, die Weizenernte aus der Kornkammer Syriens im Land zu verteilen – ein unschätzbarer Gewinn für ganz Syrien.

Manfred Ziegler

US-amerikanische Militärfahrzeuge auf syrischen Straßen
(Foto: EPA-EFE/AHMED MARDNLI)