Ausland28. August 2021

China und Rußland rücken zusammen

Vertrag über gute Nachbarschaft, Freundschaft und Zusammenarbeit nach 20 Jahren verlängert

von Ralf Hohmann

Vor 20 Jahren, am 16. Juli 2001, schlossen die Volksrepublik China und die Russische Föderation den »Vertrag über gute Nachbarschaft, Freundschaft und Zusammenarbeit« – ein Meilenstein in der Annäherung beider Staaten. Die aggressive Einkreisungspolitik von USA und NATO, die sich gleichermaßen gegen Rußland und China richtet, liefert jeden Tag neue Argumente für die Notwendigkeit dieses Vertrags. Längst sind die militärstrategischen Planungen des Pentagon und der NATO-Führungsstäbe nicht mehr auf einen kriegerischen Konflikt mit entweder China oder Rußland ausgerichtet, sondern beschäftigen sich mit der Führung eines »Zweifrontenkrieges«.

Systemischer Gegner

Auf der Internetseite des Pentagon (defense.gov) finden sich nahezu täglich neue Studien und Analysen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie der in grellen Farben gemalten Bedrohung durch Rußland und China begegnet werden könne. Die assoziierten militärischen Think-Tanks beschäftigen sich mit konkreten Szenarien. Alles unter der Devise »Defense alone will not protect us from Russia and China« (Verteidigung allein wird uns vor Rußland und China nicht schützen), wie sie der CIA-Stratege Douglas London am 5. August auf der regierungsnahen US-amerikanischen Plattform »TheHill« benannt hat.

Die NATO hat die Diktion längst übernommen: »Europa und Nordamerika« müssen sich endlich eindeutig »gegen autoritäre Regime wie Rußland und China stellen«, verkündete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 14. Juni. Die Stimmen in der USA-Regierung und der NATO-Führung, die darauf setzten, einen Keil zwischen China und Rußland zu treiben, das militärische Engagement der USA in Europa zurückzufahren und sich stattdessen allein auf den asiatischen Raum zu konzentrieren, sind ins Hintertreffen geraten.

USA-Präsident Biden hat in den letzten Monaten mehrfach betont, daß sich die USA auf eine Konfrontation mit China und Rußland einstellten und versucht, seine europäischen Verbündeten für diese Linie zu gewinnen. Deutschland hingegen versucht, sich eigene Optionen offen zu halten, wie an der Positionierung zum EU-Investitionsabkommen mit China und dem Bau der Pipeline »Nord Stream 2« erkennbar ist.

Diese Differenzen sind in China nicht unbemerkt geblieben. Zum einen ist man bemüht, die Bindungen mit Rußland auf politischem, militärischem und wirtschaftlichem Gebiet zu intensivieren, zum anderen aber auch die Multipolarität der internationalen Politik zu fördern. In der chinesischen Online-Zeitung »Global Times« vom 3. August wird das wie folgt kommentiert: »In Zukunft sollte der Verbesserung der Zusammenarbeit mit anderen westlichen Ländern als den USA mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.« In nächster Zeit sei daher von einer Vertiefung wirtschaftlicher, kultureller und politischer Kontakte mit den europäischen Staaten auszugehen.

Gemeinsam gegen Sanktionen

China und Rußland haben im Juni dieses Jahres die Verlängerung des Freundschaftsvertrages vereinbart und damit auch für die Zukunft der Bindung beider Länder eine feste Struktur gegeben. »Peoples Daily« berichtete dazu am 29. Juni: »In der Pressemitteilung pflichteten beide Länder der Notwendigkeit bei, gemeinsam das internationale System mit den Vereinten Nationen als Kern sowie die internationale Ordnung, die durch das Völkerrecht untermauert wird, aufrechtzuerhalten. Sie versprachen auch, sich gegen die Einmischung in innere Angelegenheiten unter dem Deckmantel von Demokratie und Menschenrechten sowie gegen einseitige Sanktionen zu wenden«.

Hoffnungen setzen beide Länder auch auf die Prosperität der beiderseitigen wirtschaftlichen Entwicklung. Im zwanzigsten Jahr nach der Unterzeichnung des russisch-chinesischen Freundschaftsvertrags erreichten die Kennzahlen der Wirtschafts- und Handelskooperation neue Höchstmarken: Im ersten Halbjahr 2021 stieg das Volumen des Warenaustauschs um 23,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das elfte Jahr in Folge nahm China die Position des wichtigsten Handelspartners Rußlands ein. Die chinesische »Belt and Road Initiative« (»Neue Seidenstraße«) führt zu einem stetigen Ausbau der Transportkapazitäten auf der Schiene wie auf dem Seeweg. Dazu wird in einem Joint Venture der Hafen Murmansk (Halbinsel Kola) zu einem Logistik-Knotenpunkt ausgebaut.

Es gibt eine große Zahl gemeinsamer Projekte, wie den Bau des weltgrößten Methanolwerks in Chabarowsk, die Erschließung von Erdölvorkommen in der Region Krasnojarsk, die Entwicklung des für 2023 geplanten Großraumflugzeugs CRAIC CR929 oder die Projektion einer internationalen Mondforschungsstation (ILRS), deren Entwicklung »ausdrücklich auch anderen internationalen Partnern offen steht« (»Beijing Rundschau«, 17. Juni 2021).

Unabhängiger Zahlungsverkehr

Der vor allem durch die USA erhöhte Sanktionsdruck auf China und Rußland könnte in Zukunft durchaus auch dazu führen, daß beide Länder sich aus dem westlich dominierten Zahlungsverkehr (Dollar und Swift) herauslösen. Anläßlich eines Treffens des chinesischen Außenministers Wang Yi mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow im März dieses Jahres stand dieses Thema auf der Agenda. Lawrow betonte, es gehe langfristig darum, die technologische Unabhängigkeit zu stärken und – alternativ zum Dollar – auf Abrechnungen in nationalen Währungen und in Weltwährungen umzusteigen. Der Hintergrund dieser Bestrebungen dürfte auch darin liegen, daß die USA bereits in der Vergangenheit die in Brüssel ansässige internationale Bankenorganisation Swift benutzt hat, um Banken unliebsamer Staaten vom Zahlungssystem auszuschließen. Das war zum Beispiel 2018 gegen iranische Banken der Fall, nachdem die USA einseitig das internationale Atomabkommen mit Teheran aufgekündigt hatten.

Militärische Zusammenarbeit

Die Kooperation auf militärischer Ebene im Sinne einer von Rußland und China häufig betonten »strategischen Partnerschaft« hat sich im letzten Jahrzehnt angesichts der Einkreisungspolitik von USA und NATO intensiviert. Seit 2005 halten die Armeen beider Länder gemeinsame Übungen ab, zuletzt Anfang August in der nordwestchinesischen Region Ningxia. Es war das erste russisch-chinesische Manöver auf chinesischem Staatsgebiet. Informationsaustausch und Konsultationen auf ministerieller Ebene und zwischen den Führungsebenen der Chinesischen Volksbefreiungsarmee und der russischen Streitkräfte haben sich verstetigt.

Im Rahmen der Vorbereitungen zur Verlängerung des Freundschaftsvertrages und der dazu anberaumten Treffen Anfang dieses Jahres zeigte sich, daß mittlerweile auch an ein vertraglich abgesichertes Militärbündnis beider Staaten gedacht wird. Eine Analyse des Moskauer Instituts für internationale politische und wirtschaftliche Strategien kommt zu dem Schluß, daß die sich immer unverhohlener abzeichnende expansive Militärstrategie des Westens eine engere Bindung auf dem militärischen Sektor forciert.

Doch auch der Ausbau der militärischen Beziehungen zwischen China und Rußland vermag am Ziel chinesischer Außenpolitik, einer friedlichen Weltordnung, nichts zu ändern: »Es geht um eine gute internationale Zusammenarbeit, eine Bewegung weg vom Blockdenken hin zum kooperativen Denken, weg von Gewaltherrschaft hin zu ordentlicher Zusammenarbeit, weg von Drohungen, Erpressungen und Gewaltpolitik hin zu gleichberechtigter internationaler Zusammenarbeit«, sagte Rolf Berthold, früherer Botschafter der DDR in China.

Mit Höhen und Tiefen

Das Verhältnis Rußlands zu China hat sich in den letzten vierhundert Jahren sehr vielgestaltig entwickelt. Phasen enger Kooperation, des bloßen Nebeneinanders, aber auch der Feindschaft wechselten einander ab. Bestimmenden Einfluß hatte dabei insbesondere die im 19. und 20. Jahrhundert gegen beide Länder gerichtete aggressive Politik der asiatischen Hegemonialmacht Japan.

In einer ersten Zeitspanne vom 17. Jahrhundert bis Ende des 19. Jahrhunderts waren die Beziehungen Rußlands und Chinas durch das Ringen der konkurrierenden Kaiserreiche um Vorherrschaft und Gebietsgewinne geprägt. Die koloniale Erschließung Sibiriens erweiterte die russische Einflußsphäre bis zum über 2.800 Kilometer langen Fluß Amur. Im Grenzvertrag von Nertschinsk (1689) wurden die jeweiligen Gebietsansprüche erstmals zum Vorteil des chinesischen Kaiserreichs geregelt.

Zweihundert Jahre später hatten die Niederlage Chinas im »Opiumkrieg« gegen das britische Empire (1839 – 1842) sowie innere Unruhen (Taiping-Aufstand 1851 – 1864) die chinesische Qing-Dynastie derart geschwächt, daß Rußland seine Vormachtstellung in der chinesischen Provinz Mandschurei und in der Mongolei durch die Verträge von Aigun und Tianjin (1858) und die Konvention von Peking (1860) ausbauen konnte. Japan, das sich seit 1868 unter der Meiji-Dynastie zu einem eigenständigen imperialistischen Staat entwickelt hatte, richtete seine Expansionsbestrebungen auf die koreanische Halbinsel und die Mandschurei. 1895 eroberte Japan im ersten japanisch-chinesischen Krieg die Halbinsel Korea. Der sich 1905 anschließende russisch-japanische Krieg führte 1905 zur Niederlage Rußlands und dem Verlust der mandschurischen Gebiete.

China – seit 1911/1912 Republik – stellte sich im Ersten Weltkrieg an die Seite der Alliierten und verhängte unter Regierungschef Sun Yat-sen ein Wirtschaftsembargo gegen Rußland. Das Kriegsende ließ die chinesische Republik zersplittert zurück: Im Süden Chinas agierte die nationalistische Kuomintang, von Peking aus regierten sich ablösende Gruppen von Armeegenerälen und Warlords. Die Sowjetunion – wie auch die Komintern – unterstützte die Schaffung einer Einheitsfront von Kuomintang und der 1921 gegründeten Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Moskau entsandte Militärberater nach Südchina, Kader der Kuomintang und der KPCh besuchten Militärakademien in der Sowjetunion.

Die Einheitsfront in China zerbrach indes 1927, nachdem ein von der Kommunistischen Partei unterstützter Generalstreik in Schanghai von dem militärischen Führer der Kuomintang, General Chiang Kai-shek, blutig niedergeschlagen wurde. Vor den chinesischen Kommunisten lag nun ein 22 Jahre währender bewaffneter Kampf, sowohl gegen die Kuomintang wie auch gegen den japanischen Imperialismus, der ab 1937 weite Gebiete des chinesischen Ostens einnahm. Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs gab die Sowjetunion das im Krieg gegen Japan besetzte Territorium der Mandschurei für die heranrückenden Truppen der Chinesischen Volksbefreiungsarmee frei. Die zersprengten Reste der Kuomintang setzten sich auf die Insel Taiwan ab.

Der erste Freundschaftsvertrag

Es folgte eine Phase enger Zusammenarbeit zwischen der am 1. Oktober 1949 gegründeten chinesischen Volksrepublik und der Sowjetunion. 1950 wurde der erste Freundschaftsvertrag unterzeichnet, ein reger wirtschaftlicher Austausch hob an. 1954 banden sich die beiden Staaten vertraglich noch enger aneinander. Die auf dem 20. Parteitag 1956 von Chruschtschow formulierte These von der friedlichen Koexistenz sozialistischer und kapitalistischer Staaten fand in der chinesischen KP keine Resonanz, Spannungen ergaben sich auch daraus, daß die KPCh unter Mao Zedong eine Konzentration auf den Ausbau der Schwerindustrie ablehnte. China verfolgte stattdessen den Plan des »Großen Sprungs nach vorn«, Dezentralisierung der Verwaltung, Ausbau der landwirtschaftlichen Produktion und der sie unterstützenden Leichtindustrie. Die von China erhoffte sowjetische Unterstützung bei der Entwicklung der Atomtechnik und die geforderte Rückendeckung bei den Grenzstreitigkeiten mit Indien blieben aus. 1960 zog die Sowjetunion schließlich sämtliche Berater aus China ab.

Fortan trennten sich die Wege: Erledigt geglaubte Grenzkonflikte keimten wieder auf und führten im März 1969 zu bewaffneten Auseinandersetzungen (Ussuri-Konflikt). Der Besuch des USA-Präsidenten Richard Nixon 1972 belegte aus Sicht der Sowjetunion die Hinwendung Chinas zu den USA und die gleichzeitige Abkehr vom sozialistischen Lager. Die Handelsbeziehungen kamen nahezu zum Erliegen: Betrug 1959 das sowjetisch-chinesische Handelsvolumen noch 2.000 Millionen US-Dollar, so sank es bis 1976, dem Todesjahr Mao Zedongs, auf 45 Millionen US-Dollar.

»Drei große Hindernisse«

In der Nachfolge Maos formulierte Deng Xiao-ping für die Verbesserung der Beziehungen die Forderung, die Sowjetunion müsse die »drei großen Hindernisse« beseitigen, nämlich sich aus Afghanistan zurückziehen, für einen Rückzug vietnamesischer Truppen aus dem von China unterstützten Kambodscha sorgen und die beiderseitig starke Militärpräsenz an der sowjetisch-chinesischen Grenze müsse heruntergefahren werden. Erst der Besuch Michail Gorbatschows in Peking im Mai 1989 läutete eine Entspannung im Verhältnis beider Staaten ein, auch weil die Sowjetunion ihr Engagement in Afghanistan im Februar 1989 beendet hatte und für September des gleichen Jahres der Rückzug der vietnamesischen Truppen aus Kambodscha angekündigt war. Signifikant stieg zeitgleich Ende der 1980er Jahre der Handel zwischen beiden Ländern: Das Volumen betrug nun etwa 5 Milliarden US-Dollar.

Am 25. Dezember 1991 verschwand die Sowjetunion von der politischen Weltkarte. Der wenige Monate später am 24. April 1992 in Peking vom russischen Präsidenten Jelzin und Jiang Zemin unterzeichneten »Gemeinsamen Erklärung« folgte nach weiteren acht Monaten ein Grundlagenvertrag, der in 21  Artikeln unter anderem die friedliche Koexistenz, ein Verbot des Hegemoniestrebens, die beiderseitige Verpflichtung zur Abrüstung und die angestrebte Vertiefung der politischen und wirtschaftlichen Bindungen festschrieb.