Ausland13. Januar 2024

Der deutsche Hunger-Genozid

Überlebende der Hungerblockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg dringen auf Entschädigung

von German Foreign Policy

Fast 80. Jahre nach der Blockade Leningrads durch die faschistische deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg dringen Überlebende zum wiederholten Mal auf eine wenigstens geringe Entschädigung. Die deutschen Faschisten hatten zwischen 1941 und 1944 über einen Zeitraum von fast 900 Tagen die drei Millionen Einwohner der sowjetischen Großstadt von der Lieferung von Nahrungsmitteln abgeschnitten. Ziel war es, die komplette Stadtbevölkerung durch Hunger zu ermorden; der Historiker Jörg Ganzenmüller sprach schon zum 60. Jahrestag der Brechung der Blockade von einem »Genozid durch bloßes Nichtstun«.

Entschädigung haben bisher lediglich jüdische Opfer erhalten; Berlin sprach ihnen im Jahr 2008 eine Einmalzahlung von genau 2.556 Euro zu. Diese Summe fordern nun auch die nichtjüdischen Überlebenden ein.

Tatsächlich galt der Plan, Leningrads Bevölkerung zu töten, explizit auch den als slawische »Untermenschen« diffamierten nichtjüdischen Einwohnern. Die deutsche Bundesregierung stuft den deutschen Hungergenozid ausdrücklich als »allgemeine Kriegshandlung« ein, für die keine Entschädigung zu zahlen sei.

Tödlicher Blockadering

Die faschistische deutsche Wehrmacht schloß den Blockadering um Leningrad am 8. September 1941. Damit war die Großstadt, in der damals rund drei Millionen Menschen lebten, im Süden durch deutsche Truppen von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Im Norden erledigten das die Streitkräfte des mit dem Nazi-Reich verbündeten Finnland.

Über den im Osten gelegenen Ladogasee konnten zeitweise und unter großen Gefahren in geringem Umfang Lebensmittel und andere Versorgungsgüter in die Stadt gebracht werden. Die Mengen reichten allerdings auch nicht annähernd aus, um die Bevölkerung zu ernähren.

Unmittelbar nach der Schließung des Blockaderings begann die Wehrmacht, nicht nur die Stadt, sondern auch Lebensmittellager und andere Versorgungseinrichtungen gezielt zu bombardieren. Bereits nach wenigen Wochen trat ein dramatischer Mangel an Nahrung und an Energieträgern auf. Tödlicher Hunger griff um sich, der ständige Beschuß durch Artillerie und die Bombenabwürfe der faschistischen Luftwaffe kosteten gleichfalls tausende Menschenleben, ebenso die eisige Kälte im Winter.

Sowjetische Offensiven mit dem Ziel, Leningrad zu befreien, scheiterten mehrfach. Erst am 27. Januar 1944 gelang es der Roten Armee, die Blockade zu durchbrechen. In den fast 900 Tagen, in denen Leningrad von den deutschen Truppen eingeschlossen war, kamen nahezu 1,1 Millionen Menschen zu Tode. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen verhungerte oder erfror.

»Massenmord durch Nichtstun«

Ihr Hungertod war von der Führung von Hitlers Drittem Reich gewollt. Adolf Hitler habe »die Absicht, Städte wie Moskau und Petersburg ausradieren zu lassen«, notierte dessen Propagandaminister Joseph Goebbels am 9. Juli 1941; das sei »notwendig«: »Denn wenn wir schon Rußland in seine einzelnen Bestandteile aufteilen wollen«, dann dürfe es »kein geistiges, politisches oder wirtschaftliches Zentrum mehr besitzen«.

Reichsmarschall Hermann Göring riet im September 1941, Leningrad gar nicht erst zu erobern – »aus wirtschaftlichen Überlegungen«: Die Nahrungsmittel der Sowjetunion sollten laut den Berliner Plänen der Wehrmacht und nicht der sowjetischen Bevölkerung zugute kommen. »Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teiles dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht«, erklärte Hitler am 29. September 1941; eine etwaige Kapitulation der Stadt müsse »abgeschlagen werden, da das Problem des Verbleibens und der Ernährung der Bevölkerung von uns nicht gelöst werden kann«.

Die Bevölkerung Leningrads wurde – nicht anders als Millionen sowjetischer Kriegsgefangener – dem Hungertod preisgegeben. Der Historiker Jörg Ganzenmüller schrieb bereits vor 20 Jahren über die für die Nazis kostengünstige Form des Massenmords, es handle sich um einen »Genozid durch bloßes Nichtstun«.

»Begegnungszentrum« statt Entschädigung

Die Überlebenden der genozidalen Blockade haben vom Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs, der Bundesrepublik Deutschland, nie eine angemessene Entschädigung erhalten. Nur jüdischen Überlebenden wurde 2008 die Option eröffnet, zum Ausgleich eine Einmalzahlung zu erhalten. Diese belief sich nach Angaben des Auswärtigen Amts auf 2.556 Euro.

Im Jahr 2021, 80 Jahre nach Beginn der Blockade, gelang es der Jewish Claims Conference, von der Bundesrepublik die Zusage für ein Rentenprogramm für etwa 6.500 jüdische Nazi-Opfer zu erhalten, von dem prinzipiell auch jüdische Überlebende der Blockade profitieren können. Es handelt sich um Monatszahlungen von 375 Euro.

Nichtjüdische Überlebende gehen bis heute leer aus. Dabei galt der Plan der deutschen Faschisten, die Bevölkerung Leningrads per Hungertod zu vernichten, explizit allen Einwohnern, auch dem als slawische »Untermenschen« rassistisch attackierten nichtjüdischen Bevölkerungsteil.

Im Jahr 2019 stellte das Auswärtige Amt zum 75. Jahrestag der Brechung der Blockade zwölf Millionen Euro bereit, um damit ein Krankenhaus für Kriegsveteranen zu modernisieren und die Einrichtung eines »deutsch-russischen Begegnungszentrums« zu finanzieren. In Berlin wird dies als eine »freiwillige Leistung« begriffen, die zu keinerlei weiteren Zahlungen verpflichte.

»Allgemeine Kriegshandlung«

Insbesondere lehnt die deutsche Bundesregierung die Zahlung individueller Entschädigungen an nichtjüdische Bürger der damaligen Sowjetunion bzw. des heutigen Rußlands grundsätzlich ab. »Schädigungen, die ... aus allgemeinen Kriegshandlungen herrühren, fallen unter das allgemeine Völkerrecht und werden nicht durch individuellen Schadenersatz, sondern durch Reparationsvereinbarungen von Staat zu Staat geregelt«, erklärte die Bundesregierung 2017 im Bundestag.

Demnach stuft Berlin den Plan, eine Drei-Millionen-Metropole wie Leningrad komplett dem Hungertod auszuliefern, als »allgemeine Kriegshandlung« ein. Die ehemalige Sowjetunion habe »in erheblichem Umfang Reparationen vereinnahmt und im August 1953 auf weitere deutsche Reparationsleistungen verzichtet«, hieß es weiter. Einem »Staat, der Reparationen empfangen hat«, obliege es aber selbst, »die individuellen Schäden auf seinem Territorium auszugleichen«.

Die deutsche Bundesregierung resümierte im Jahr 2017, »unter dem Blickwinkel von rechtlichen Entschädigungsleistungen« sei »das Thema im deutsch-russischen Verhältnis ... abgeschlossen«. Sie räumte lediglich ein, es müsse »die Erinnerung weiterhin wachgehalten werden«. Mit sogenannter »Erinnerungspolitik« inszeniert sich die Bundesrepublik regelmäßig PR-wirksam als »geläuterter Staat«, während sie zugleich die Opfer leer ausgehen läßt.

Die Überlebenden

Vor dem bevorstehenden 80. Jahrestag der Durchbrechung der Blockade haben sich nun die letzten Überlebenden zu Wort gemeldet. »Mittlerweile sind wir weniger als Sechzigtausend, alles Menschen verschiedener Nationalitäten, die die Gräuel der belagerten Stadt überlebten«, heißt es in einem Offenen Brief an die Bundesregierung. Die Überlebenden »verurteilen entschieden« die Weigerung Berlins, die – ohnehin magere – Entschädigung »auf alle heute noch lebenden Blockade-Opfer ohne Ansehen ihrer ethnischen Zugehörigkeit auszuweiten«. Schließlich hätten die deutschen Hungermordpläne »keine Ausnahmen aufgrund von Nationalität« vorgesehen.

In dem Offenen Brief heißt es: »Wir appellieren an die deutsche Bundesregierung, die einzig richtige Entscheidung nicht hinauszuzögern und die humanitären Auszahlungen auf ausnahmslos alle Blockade-Überlebenden auszuweiten, die es immer weniger gibt.« Laut Angaben der Überlebenden wurde sogar die von Berlin als »humanitäre Geste« beworbene Modernisierung des Krankenhauses für Kriegsveteranen »immer noch nicht realisiert«.