Ausland30. Dezember 2020

Zerfetzt und abgelehnt

Keine Entschädigung für Opfer der deutschen Bundeswehr in Afghanistan

Der afghanische Kleinbauer Abdul Hanan gibt nicht auf. Mehr als elf Jahre ist es her, als er seine beiden Söhne Bayan (12 Jahre) und Nesarullah (8 Jahre) das letzte Mal lebend gesehen hat – an jenem Abend des 3. September 2009. Zwei von den Taliban entführte Tanklaster waren beim Versuch, den Fluß Kundus zu queren, in einer Sandbank steckengeblieben. Die Lkw hatten die Taliban schon aufgegeben, als die beiden Jungen, wie viele andere Einwohner der nahegelegenen Dörfer auch, sich mit Kanistern zu den Trucks aufmachten, um Sprit abzuzapfen.

Die über den havarierten Fahrzeugen in großer Höhe kreisenden zwei F-15 Kampfjets hörten sie nicht. Auf dem Infrarot-Beobachtungsmonitor der Jets erschienen sie als kleine, sich bewegende Lichtpunkte. Die US-amerikanischen Piloten meldeten per Funk an die 15 Kilometer entfernte deutsche Operationszentrale im Feldlager Kundus, daß sich bei den Lkw eine größere Menschenmenge eingefunden habe. Sie fragten fünf Mal nach, ob es sich wirklich bei all den Lichtpunkten um Taliban handele und ob sie statt einem Bombardement nicht eher mit einem Tiefflug »die Leute auseinandertreiben« sollten.

Im Operationszentrum drängten Bundeswehr-Oberst Georg Klein und sein Fliegerleitfeldwebel Markus Wilhelm per Funk zum schnellen Einsatz. Es gehe darum, die Bodenziele »auszuschalten«, es seien alles Taliban, von Zivili­sten wisse man nichts. Um 1.50 Uhr am 4. September 2009 starben laut NATO-Untersuchungsbericht 142 Menschen, darunter 26 Kinder. Auch Bayan und Nesarullah wurden durch die Explosion der zwei 500-Pfund Bomben zerfetzt. Ihr Vater erstattet Strafanzeige gegen Oberst Klein und Oberfeldwebel Wilhelm.

Die deutsche Generalstaatsanwalt lehnte am 13. Oktober 2010 die Einleitung eines Strafverfahren ab, die Beschwerde von Abdul Hanan wurde vom Oberlandesgericht Düsseldorf im Februar 2011 zurückgewiesen, auch das Bundesverfassungsgericht bestätigte am 19. Mai 2015, es sei kein »hinreichender Tatverdacht« zu erkennen. Die Bundesregierung zahlte jeder Opferfamilie – »ohne Anerkennung einer Rechtspflicht« – 5.000 US-Dollar, gleich wie viele Tote eine Familie zu beklagen hatte. Abdul Hanan klagte gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Schadenersatz (40.000 Euro). Er scheiterte beim Landgericht Bonn (2013), beim OLG Köln (2015) und ein Jahr später beim Bundesgerichtshof (BGH).

Stets hielt man ihm entgegen: Es sei bereits mehr als fraglich, ob bei einem »internationalen Konflikt«, dem afghanische Zivilisten zum Opfer gefallen seien, überhaupt deutsches Recht zur Anwendung kommen könne. Außerdem wäre eine Amtspflichtverletzung vom Kläger nicht bewiesen, denn Oberst Klein habe »alle ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ausgeschöpft«. Der BGH blieb damit seiner Rechtsprechung treu, die er schon im Fall des NATO-Bombardements auf die serbische Kleinstadt Varvarin (30. Mai 1999) vertreten hatte: Durch NATO-Bomben auf eine Brücke starben damals zehn Zivilisten, 30 wurden zum Teil schwer verletzt.

Das Bundesverfassungsgericht hat nun in seinem Ablehnungsbeschluß – die Verfassungsbeschwerde Abdul Hanans wurde nicht einmal zur Entscheidung angenommen – noch eins draufgesetzt. In der Presseerklärung vom 16. Dezember ist zu lesen, daß »nicht jede Tötung einer Zivilperson im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen« einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstelle. Abdul Hanan wird jetzt den Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einschlagen. Dort in Straßburg harrt auch noch seine Beschwerde gegen die Einstellung des Strafverfahrens einer Entscheidung.

In der mündlichen Verhandlung wird er auf Oberst Klein treffen. Der ist inzwischen zum Brigadegeneral befördert worden.

Ralf Hohmann

Bundeswehr-Oberst Georg Klein gab den Befehl zum Angriff. Er wurde inzwischen zum General ernannt
(Foto: EPA/CAN MEREY)