Auf dem Weg zur militärisch basierten »Führungsmacht«
Die deutsche Bundesregierung nutzt 100 Milliarden schweres »Sondervermögen« zur Erfüllung langgehegter geopolitischer Ambitionen
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte in einer Sondersitzung des Bundestages am Sonntag, dem 27. Februar, als angebliche »Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriff Rußlands auf die Ukraine« ein 100 Milliarden Euro teures Aufrüstungsprogramm für die Bundeswehr verkündet. Und daß ab sofort zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für »Verteidigung« ausgegeben würden. Das Aufrüstungsprogramm wird beschönigend »Sondervermögen« genannt, es handelt sich aber um Rüstungsschulden, die, um die sogenannte Schuldenbremse zu umgehen, auch noch im Grundgesetz festgeschrieben wurden.
Der konkrete Inhalt der »Zeitenwende«-Rede war wohl nur den Kabinettsmitgliedern Christian Lindner (FDP), Robert Habeck und Annalena Baerbock (beide Bündnis 90/Die Grünen) bekannt. Die Fraktionen und einzelnen Abgeordneten der Regierungsparteien wußten nichts vom Aufrüstungsprogramm. Doch was umfaßt es? Wurde hier die Gelegenheit am Schopfe gepackt, nun endlich die Rüstungsprojekte anzuschaffen, die schon vorher geplant waren? Jein. Heute, im Herbst 2022, sind wir schlauer, was diese Kriegsrede von Scholz bedeutet.
Scholz hatte am 27. Februar unter anderem gesagt: »Der ›Eurofighter‹ soll zur Electronic warfare befähigt werden. Das Kampfflugzeug ›F-35‹ kommt als Trägerflugzeug in Betracht.« Am 14. März verkündete dann die SPD-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht als erste Entscheidung im Kontext der 100-Milliarden-Rüstungsschulden, daß nun 35 US-amerikanische »F-35«-Kampfjets angeschafft werden. Diese sind als Atomwaffenträgersystem und als Bomber eingeplant. Damit wird die sogenannte nukleare Teilhabe fortgeführt. Bundeswehr-Soldaten fliegen dann »F-35« statt »Tornados« mit US-amerikanischen Atomwaffen, die in Büchel in Rheinland-Pfalz stationiert sind. Die Vorgängerregierung plante hier noch mit den älteren und noch nicht für Atomwaffen zertifizierten »F-18«-Kampfjets ebenfalls aus den USA.
Im Handstreich zog Scholz eine Entscheidung mit der »Zeitenwende«-Rede durch, die wir in der letzten Legislaturperiode noch verhindern beziehungsweise aufschieben konnten: die Bewaffnung der von Israel geleasten Drohnen »Heron TP«. Die bislang im Detail nicht bekannte Bewaffnung mit Raketen kostet 152 Millionen Euro. Die erste Verlegung in ein mögliches Kriegsgebiet beläuft sich auf 100 Millionen. Der Grundbetrieb in Israel kostet wiederum 717 Millionen Euro und die Erprobung dort noch mal 176 Millionen Euro. Eine Abstimmung über die Drohnenbewaffnung fand nur im Verteidigungs- und Haushaltsausschuß statt, nicht aber im Bundestagsplenum.
Diese beiden Entscheidungen (»F-35« und Bewaffnung von Drohnen) wurden vor der konkreten Ausplanung der Rüstungssonderschulden in einem nicht öffentlichen Wirtschaftsplan durchgezogen. Insgesamt fließt von den 100 Milliarden Euro in die »Dimension Luft« am meisten Geld: 33,4 Milliarden. Neben den »F-35« und den »Heron-TP«-Drohnen sollen nach dem Wirtschaftsplan noch »Chinook-CH-47F«-Transporthubschrauber, leichte Unterstützungshubschrauber, weltraumbasierte Frühwarn- und Überwachungssysteme sowie insbesondere das deutsch-französische Vorzeigeprojekt »Future Combat Air System« (FCAS) finanziert werden. FCAS ist ein rein europäisches Kampfflugzeugsystem, das satellitenbasiert agieren und von Drohnenschwärmen begleitet werden soll. Allerdings ist spannend, ob Frankreich FCAS weiterhin mit Priorität plant.
20,7 Milliarden Euro sollen für die »Dimension Führungsfähigkeit/Digitalisierung« ausgegeben werden. Für die »Kommunikation im Feld« soll »ein taktisches Funknetzwerk mitsamt abhörsicheren Funkgeräten« angeschafft werden. Ein neuer Rechenzentrumsverbund, ein gesichertes Funknetzwerk und neue Satellitenkommunikation sind ebenfalls im Plan.
Erst an dritter Stelle kommen die Projekte der »Dimension Land« mit 16,6 Milliarden Euro. Neues Geld soll in den immer teurer werdenden Schützenpanzer »Puma« gesteckt und eine neue Version des »Boxer« angeschafft werden – ebenfalls Nachfolger der gepanzerten Fahrzeuge »Fuchs« und »Marder«. Das deutsch-französische Kampfpanzerprojekt MGCS (Main Ground Combat System) soll ebenfalls aus dem »Sondervermögen« gestartet werden. Hier ist das französische Engagement noch mehr in Frage gestellt.
Für die »Dimension See« sind 8,8 Milliarden Euro vorgesehen. Zentral sind hier die »Korvette K130«, die »Fregatte 126« und das »U-Boot 212«. Dazu gehören auch »Sonix«, ein System zur Unterwasserortung, und Flugabwehrraketen für U-Boote, Mehrzweckkampfboote und Antischiffsraketen.
Auffällig ist, daß im Verhältnis zu früheren Beschaffungsrunden beziehungsweise Beschaffungsorgien, die ich im Verteidigungsausschuß konkret miterlebt habe, nun, wie es in der Zeit zu lesen war, tatsächlich mehr Rüstungsprojekte »von der Stange« gekauft werden sollen. Der »Zeit«-Autor sieht zum Beispiel die deutsche Panzerindustrie nur unzureichend »versorgt«. In der Haushaltsrunde 2023 nach der Einführung des Sondervermögens sind nun 8,5 Milliarden für Ausgaben »entnommen«. Es bleiben also noch mehr als 90 Milliarden Euro, die verbraten werden können.
Wenn man Äußerungen des SPD-Kovorsitzenden Lars Klingbeil, von Scholz und Baerbock zugrundelegt, kündigt die Ampelregierung nichts Geringeres an, als Deutschland zur stärksten europäischen Militärmacht, zur zweitstärksten westlichen Macht und zur weltweiten, militärisch basierten »Führungsmacht« zu machen. Die Rüstungsindustrie freut sich. Aber viele private Haushalte werden schon in diesem Winter wegen der Energiepreise in den Ruin gestürzt. Gegen die Aufrüstung sind Protest und Widerstand dringend notwendig.
Tobias Pflüger ist Friedensforscher, Politikwissenschaftler und Politiker. Er war von 2017 bis 2021 Abgeordneter der Partei Die Linke im Deutschen Bundestag