Selenskis »Siegesplan«
Präsident Selenski besucht Deutschland und dringt auf weitere Mittelzusagen für einen von ihm entwickelten Plan für einen »Sieg der Ukraine«
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, der einen »Plan« für einen »Sieg der Ukraine« über Rußland entwickelt zu haben behauptet, traf am Freitag zu einem Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Deutschland ein. Selenski hat die Ankündigung Berlins scharf kritisiert, über die seinem Land bereits fest zugesagten Mittel hinaus keine weiteren Milliardensummen mehr zur Verfügung zu stellen.
Auch bei USA-Präsident Joe Biden will er sich bald für neue Gelder einsetzen. Den angeblichen »Plan« für einen »Sieg der Ukraine« bringt er vor, während die ukrainische Offensive im Gebiet Kursk gescheitert ist und die Einnahme der Stadt Pokrowsk durch russische Truppen bevorsteht. Diese Stadt ist ein logistischer Knotenpunkt; ihr Verlust brächte die ukrainischen Streitkräfte einer Niederlage deutlich näher.
Werbeoffensive für Waffen
Der kurzfristig für den Freitag angekündigte Deutschland-Besuch des ukrainischen Präsidenten Selenski ist Teil einer Werbeoffensive, mit der Kiew einen weiteren Schub an Unterstützung vor allem mit Waffen zu erreichen sucht. Bereits am Donnerstag war der ukrainische Kriegsminister Rustem Umjerow in Berlin zu einem Gespräch mit seinem deutschen Amtskollegen Boris Pistorius zusammengekommen; zuvor hatte Umjerow in Washington Verhandlungen über künftige Waffenlieferungen geführt.
Selenski nahm am Freitag an einem Treffen der »Ukraine Defense Contact Group« (UDCG) auf der USA-Luftwaffenbasis Ramstein teil und führte am Nachmittag in Frankfurt am Main mit Bundeskanzler Olaf Scholz Verhandlungen unter vier Augen. Thema war vor allem die Ankündigung der deutschen Bundesregierung, keine zusätzlichen Mittel an Kiew über die bereits fest zugesagten Gelder hinaus zu vergeben.
Selenski hat außerdem angekündigt, er werde in Kürze USA-Präsident Joe Biden einen »Plan« für einen »Sieg der Ukraine« über Rußland vorlegen, für den freilich Washington die erforderlichen Mittel bereitstellen müsse. Als denkbar gilt ein Treffen am Rande der UNO-Generalversammlung; dort steht eine Rede von Biden für den 24., eine weitere von Selenski für 25. September in Aussicht.
Vor der Niederlage
Von dem »Sieg«, für den Selenski einen »Plan« vorlegen will, ist die Ukraine in Wirklichkeit weiter entfernt denn je. Die Offensive der ukrainischen Streitkräfte im russischen Gebiet Kursk ist längst ins Stocken geraten. Ihr Ziel, die russischen Truppen, die in der Ostukraine kämpfen, zu einer räumlichen Diversifizierung zu zwingen und damit ihren Ansturm im Gebiet Donezk zu schwächen, ist total gescheitert. Während Rußland zur Verteidigung von Kursk Einheiten aus anderen Landesteilen herbeibeordert hat, rücken die russischen Truppen in Donezk weiter auf die Stadt Pokrowsk vor, die als ein wichtiger logistischer Knotenpunkt für die Versorgung der ukrainischen Streitkräfte im Osten des Landes gilt.
Die Einnahme des gesamten Gebiets Donezk gerät damit laut Einschätzung von Militärs immer mehr in Reichweite. Zudem setzt Rußland die Zerstörung der ukrainischen Energieinfrastruktur fort – wie die Londoner Denkfabrik Royal United Services Institute (RUSI) bereits im Juni urteilte, mit »beeindruckender Genauigkeit«. Das RUSI wies ebenfalls bereits im Juni darauf hin, manche gingen davon aus, im Winter werde es in der Ukraine teilweise nur vier Stunden Strom pro Tag geben. Dies werde zahlreiche ukrainische Zivilisten auf die Flucht treiben – und zwar nach Westeuropa.
Eine neue Fluchtbewegung
Dies wird voraussichtlich auf gleich mehreren Ebenen zu neuen Schwierigkeiten für die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer führen. So löste die Aussicht, es könne demnächst zu einer weiteren großen Fluchtbewegung kommen, in der vergangenen Woche auf einem Treffen der EU-Außenminister erhebliche Sorgen aus.
Schon jetzt wächst der Unmut in der Bevölkerung über ukrainische Flüchtlinge. Schon im Frühjahr gab es erste Vorstöße deutscher Politiker, die die Streichung des Bürgergelds für vor dem Krieg geflohene Ukrainer verlangten. Ähnliche Forderungen werden seit geraumer Zeit in Irland laut.
Umfragen zeigen, daß in Polen 95 Prozent der Einwohner der Ansicht sind, die Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge solle reduziert werden, während nur noch 17 Prozent – im Vergleich zu 37 Prozent ein Jahr zuvor – eine langfristige Ansiedlung von Ukrainern in Polen für gut befinden, und während schon 61 Prozent sich klar dafür aussprechen, die Flüchtlinge sollten sofort nach dem Ende des Kriegs in ihr Herkunftsland zurückkehren. In den Niederlanden wiederum war der Anteil derjenigen an der Bevölkerung, die prinzipiell die Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine ablehnten, von lediglich 11 Prozent im Februar 2022 auf 23 Prozent im Februar 2024 gestiegen.
Konsequenzen für Generationen
Droht in der EU – auch in Deutschland – der Unmut der Bevölkerung weiter anzuschwellen, so zeichnen sich vor allem für die Ukraine selbst gravierende weitere Probleme ab. So besteht schon jetzt ein Mangel an Arbeitskräften, weil zahllose Männer in die Streitkräfte einberufen wurden und weit mehr als eine Million Frauen, darunter vor allem gut ausgebildete, in die EU geflohen sind. Zwar gelingt es mehr und mehr, Arbeitsplätze mit verbliebenen Frauen zu besetzen; doch reicht die Zahl der verfügbaren Frauen Berichten zufolge längst nicht aus.
Sollte eine hohe Anzahl ukrainischer Zivilisten aufgrund der unzulänglichen Versorgung mit Energie und Wasser im Herbst oder im Winter tatsächlich in Richtung Westen fliehen, dann nähme der Arbeitskräftemangel noch weiter zu. Für die Zeit nach dem Ende des Kriegs sagen Demographen ohnehin schon jetzt eine desolate Situation voraus: Weil die Geburtenrate kriegsbedingt abgestürzt ist und eine hohe, stets weiter wachsende Zahl junger Männer an der Front umkommt, ist völlig unklar, wie sich die ukrainische Gesellschaft, die bereits jetzt durch Krieg, Flucht und Gebietsverluste zehn Millionen Menschen verloren hat, adäquat entwickeln können soll. Experten warnen vor »Konsequenzen für Generationen«.
(Nicht) verhandlungsbereit
Während Selenski, neue militärische und soziale Katastrophen für die Ukraine vor Augen, zugunsten eines nicht erkennbaren »Sieges« über Rußland Verhandlungen über ein Ende des Krieges ablehnt, hat sich Rußlands Präsident Wladimir Putin am Donnerstag zum wiederholten Mal zu solchen Verhandlungen bereiterklärt.
Putin erklärte am Rande des Östlichen Wirtschaftsforums in Wladiwostok, die Gespräche könnten jederzeit aufgenommen werden. Grundlage könne die vorläufige Übereinkunft sein, die beide Seiten Ende März 2022 in Istanbul erreicht hatten, bevor Kiew sie – nicht zuletzt unter westlichem Druck stehend – zurückwies. Als mögliche Vermittler nannte der russische Präsident China, Brasilien oder Indien.
Zu Gesprächen mit dem chinesischen Außenminister Wang Yi hatte sich erst im Juli der nun zurückgetretene ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba in der Volksrepublik aufgehalten. China hat zuletzt am Dienstag vergangener Woche dazu aufgerufen, den Friedensplan zu unterstützen, den es zuvor gemeinsam mit Brasilien entwickelt hatte; der Appell erfolgte im Anschluß an ein Treffen mit Repräsentanten Brasiliens, Südafrikas sowie Indonesiens, bei dem es ebenfalls um die Beendigung des Ukraine-Kriegs gegangen war.
Lediglich im Westen bleibt Unterstützung für einen Waffenstillstand bislang aus – auch und vor allem in Deutschland.