Ausland15. Juni 2010

Kirgisischer Mob läuft Amok

Hintergründe des blutigen Konflikts im Süden Kirgistans

Seit Ende der vergangenen Woche tobt im Süden Kirgistans ein regelrechter Krieg kirgisischer Ma­rodeure und Krimineller gegen die usbekische Minderheit. Er wird mit Knüppeln, Messern und Brandsätzen, mit Schußwaffen und sogar schwerem Kriegsgerät geführt.

Schwerpunkte der Unruhen sind die Städte Osch und Dschalalabad sowie die umliegenden Regionen. Nach Agenturberichten wurden ganze Stadtviertel und Dörfer abgebrannt, usbekische Bewohner ermordet, verwundet oder vertrieben. Nach offiziellen Angaben waren bis Sonntagfrüh bereits etwa 113 Tote und 1.400 Verletzte zu beklagen. Inoffizielle Beobachter gehen von weit höheren Zahlen aus. Laut dem usbekischen Katastrophenschutzministerium sind mehr als 75.000 Usbeken nach Usbekistan geflohen. Inzwischen droht in den betroffenen Gebieten auch eine Versorgungskatastrophe. Die Geschäfte sind zerstört und geplündert. Es fehlt an Medikamenten und Nahrungsmitteln.

Trotz Ausnahmezustands im Konfliktgebiet, dem Einsatz von Miliz und Militär und der Erlaubnis für diese, ohne Vorwarnung von ihren Waffen Gebrauch zu machen, hat die Interimsregierung weitgehend die Kontrolle verloren. Sie hat sich daraufhin mit der Bitte um militärische Unterstützung an Rußland gewandt. Mit der Begründung, daß es sich um einen inneren Konflikt handele, wurde dem bisher nicht entsprochen. Es wird allerdings humanitäre Hilfe geleistet.

Am Sonntag hat Rußland zudem 300 Fallschirmjäger zum Schutz ihrer Stützpunkte in Kirgistan entsandt. Am Montag tagte in Moskau das Sekretariat der Organisation des Vertrages für Kollektive Sicherheit (OVKS). Der Organisation gehören Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Rußland, Tadschikistan, Usbekistan und Belarus an. Auf der Tagung sollte über die Entsendung von Friedenstruppen nach Kirgistan entschieden werden.

»Wem nutzt es?«

Die Ursachen und Hintergründe der tragischen Ereignisse zeichnen sich ab, wenn man den Grundsatz »Wem nutzt es?« zu Hilfe nimmt.

Da rücken als potentielle Nutznießer sofort der gestürzte Präsident Bakijew, sein Familienclan und die anderen Privilegierten des früheren Regimes ins Blickfeld, die sich mit dem Verlust ihrer Macht, aber auch dem möglichem Verlust von Eigentum und Pfründen nicht abfinden wollen. Hat doch nach jedem Machtwechsel seit der »Unabhängigkeit« ein erbitterter Kampf um die Neuaufteilung des Eigentums begonnen.

Für die Behauptung der Interimsregierung, daß die Unruhen von diesen Kräften inspiriert und organisiert seien, sprechen auch Ort und Zeitpunkt der Ereignisse. So ist es schwer, an Zufall zu glauben, wenn die Pogrome sich auf die Städte Osch – die Heimatstadt des Bakijew-Clans – und Dschalalabad sowie deren Umgebung konzentrieren, wo das gestürzte Regime die meisten Anhänger hat. Kaum zufällig dürfte auch der Zeitpunkt sein. Begannen die Unruhen doch am Vorabend des in Taschkent tagenden Gipfeltreffens der Schanghai-Kooperationsorganisation. Da liegt die Vermutung nahe, daß den Spitzen dieser Organisa­tion demonstriert werden sollte, ohne Bakijew versinke Kirgistan im Chaos.

Zudem wurde für den 27. Juni von der Interimsregierung ein Verfassungsreferendum angesetzt. Es soll sicher auch dazu dienen, der neuen Macht durch Zustimmung des Wahlvolkes Legitimität zu verschaffen. Ein Aussetzen des Referendums oder eine Niederlage würde national wie international die Autorität der neuen Machthaber untergraben.

Ihre Finger im Spiel könnten zudem die in Kirgistan mächtigen kriminellen Gruppen haben, von denen nicht wenige über viele Fäden mit dem Bakijewregime verbunden sind. Zu ihnen gehört nicht zuletzt die Drogenmafia, die unter Bakijew weitgehend ungestört ihre schmutzigen Geschäfte auf der Transitroute Afghanistan – Tadschikistan – Kirgistan – Rußland – Westeuropa abwickeln konnte. Ob das unter den neuen Machthabern so weiter gehen kann, ist offen.

Soziale Misere der einfachen Menschen

Als Deckmantel für die eigentlichen Beweggründe eignen sich in einem Land mit multiethnischer Bevölkerungsstruktur besonders gut ethnische Konflikte. Das gilt vor allem auch in Kirgistan. Schwelt hier doch seit langem Hader zwischen der kirgisischen Mehrheit und der besonders in den südlichen Regionen starken usbekischen Minderheit. In der Sowjetzeit wurde er in Schach gehalten. Allerdings ist er dann 1990 aufgebrochen.

Bezeichnenderweise geschah dies damals schon im Gebiet Osch. Die Stadt Usgen und andere mehrheitlich von Kirgisen besiedelte Ortschaften wurden von Massenmorden an Usbeken erschüttert. Die Straßenschlachten, die nach amtlichen Angaben 300 Menschenleben forderten, konnten nur durch ein Eingreifen der Sowjetarmee beendet werden. Seitdem kam es in der Region immer wieder zu kleineren Konflikten und einem weitgehenden Abkapseln der beiden Ethnien voneinander.

Einen günstigen Boden für diese Konflikte schafft nicht zuletzt die soziale Misere der einfachen Menschen in Kirgistan. Unter solchen Bedingungen finden Demagogen leicht ein offenes Ohr für Parolen, die von den herrschenden Ausbeutern als den tatsächlich Schuldigen durch Haß auf die genauso ausgeplünderten und unterdrückten einfachen Menschen anderer ethnischer Zugehörigkeit ablenken.

Willi Gerns