Kultur13. September 2012

»Sadismus ist eine Droge«

Zum Roman »Die große Hatz« von André Link

Hat man den dokumentarischen Roman – wie ich »Die große Hatz« von André Link nennen möchte – gelesen, so bleibt man eine ganze Weile sprachlos: so groß ist der Eindruck dieses unkonventionellen Buches mit dem Untertitel: »Treibjagd nach Kriegsende« 1).

Was da beschrieben wird, ließe sich allerdings mit dem wenig moralischen Gesetz »Auge um Auge, Zahn um Zahn« umschreiben. Unmoralisch ist es jedenfalls für die christliche Ethik (um die sich allerdings immer schon nur wenige Christen geschert haben), aber nicht weniger für eine »humanistische« Ethik, die man besser einfach humane Ethik nennen könnte.

Die regelrechte Hetzjagd, welche nach Kriegsende auf Kollaborateure (oder auch nur angenommene Kollaborateure) der Nazis in allen von diesen besetzten Ländern gemacht wurde, und die oft grauenhaften Folgen dieser Jagd sind Tatsachen, die André Link wie ein Eisen angefaßt hat, das für die meisten Luxemburger zu heiß wäre.

Gegen Ende des Krieges – etwa um die Mitte 1944 – sagte mein Vater: »Die von der Miliz sind Banditen«. Zur Erklärung: Im Sommer 1944 wurden die Luxemburger in der Nähe von Bahnhöfen gewarnt, die Amerikaner würden die Bahnhöfe bombardieren. Der Zweck: die schweren Waffen zu zerstören, welche die Nazis auf dem Rückzug »heim ins Reich« transportieren wollten. Da wir ganz in der Nähe des Ettelbrücker Bahnhofs wohnten, zogen wir für einige Zeit in die Hauptstadt zur Schwester meiner Mutter, weit entfernt von der »Stadter Gare.« Bald schon tauchten dort bewaffnete Leute in der Wohnung auf: wir seien im Verdacht, als Kollaborateure vor der Ettelbrücker Miliz geflüchtet zu sein. Der überraschende Verdacht konnte zerstreut werden, auch mit Hilfe meines Onkels, der damals Mitglied der KPL war.
Tatsächlich waren viele dieser plötzlich aktiv gewordenen »Patrioten« Leute, die bis dahin von der Gesellschaftsschicht über ihnen nach der Hackordnung unterdrückt wurden, und die nun auch einmal oben sein wollten, um nach unten treten zu können. Es waren zumeist »simpel-minded« Menschen, die ihre latente – und leider sehr begründete – Aggressivität bis dahin wohl nur mühsam im Zaum gehalten hatten.

Ihr Tun bezog sich nicht nur auf manchmal extremen Sadismus im Umgang mit Kollaborateuren (oder mit Leuten, die dafür gehalten wurden, nicht selten von Neidern angeschwärzt), sondern auch auf Diebstahl. Wovon auch der Unterzeichnete ein Lied singen kann.

Zur Zeit der Rundstedt-Offensive (heute Ardennen-Offensive genannt), der letzten Angriffs-Aktion von Hitler im Westen (ab 16.12.1944) verließen die Einwohner (u.a.) von Ettelbrück und Diekirch ihre Heimat in Richtung Süden, und weiter südlich kamen die Nazis nicht, denn sie wollten nach Antwerpen, um die östlich davon liegenden Alliierten abzuschneiden (was ihnen aber schon mangels Treibstoff nicht gelang). Die bewaffneten »Unionisten«, wie die selbsternannten Milizionäre hießen (mit Baskenmütze auf), waren eigentlich eine Art zusammengewürfelte Bürgerwehr in dem damals gesetzfreien Raum. Während der Rundstedt-Offensive hatten sie u.a. die Aufgabe, die verlassenen Häuser zu bewachen. Aber da hatten sie sich selbst als Böcke zu Gärtnern gemacht (jedenfalls nicht wenige unter ihnen). Als wir im Februar zurückkamen, fehlten u.a. das Silber und das Radio. Aber alte Leute, die nicht mehr gut gehen konnten 2) hatten sich in ihren Kellern verschanzt und sich vor Granatsplittern mit Matratzen in den Luken geschützt. Dazu gehörten unsere Nachbarn (ein Förster mit seiner Frau), welche die Miliz bei ihren Diebstählen beobachtet hatten. Aber der Mann war kein Held und nannte keine Namen. »Wenn ich reden würde…« pflegte er öfter zu sagen. Aber die Angst vor der Miliz hielt lange vor (noch bis nach dem Krieg – wie auch André Link mir bestätigte). Wobei die Miliz natürlich auch wohlmeinende, ehrliche und keineswegs sadistische Mitglieder hatte. Schwarz-Weiß-Malerei wäre hier wie überall fehl am Platz.

Was der Autor in seinem gut dokumentierten »Roman« erzählt, ist oft haarsträubend und kaum zu glauben, aber eben wahr. Und ganz sicher könnten viele Leser diese Tatsachen mit Erlebten ergänzen. – Es geht vom Haare-Scheren der Frauen über den Diebstahl bei festgenommenen Kollaborateuren, über den Zwang, Jauche zu trinken, die heute »waterboarding« genannte Folter (bei A. Link S. 85), bis zu täglichem Verprügeln und Zähne-Ausschlagen im Gefängnis »Grund«, usw.

Von Dokumentarfilmen aus Frankreich kennt man Ähnliches. (Gegen den Sadismus einer kleinen Minderheit von Franzosen – einer kleinen Minderheit wie in Luxemburg – protestierte öffentlich u.a. J.-P. Sartre.)
Gegen die Kollaborateure, die sich unter den Deutschen in Luxemburg strafbar gemacht hatten, wurden bis 1949 in gerichtlichen Prozessen 12 Todesurteile gesprochen, davon 8 vollstreckt. Insgesamt waren 249 »Gielemännercher« zu Zwangsarbeit, 1.366 zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. 1.186 Luxemburgern wurde ihre Staatsangehörigkeit aberkannt. 3)

Aber der Zeitungsaufruf der Regierung im September 1944, »von der Selbstjustiz und ihren Exzessen abzulassen« 4), wurde nicht befolgt, ebenso wenig das Schreiben von Justizminister Bodson vom 7. Mai 1945 an die Vorsteher der Zucht- und Straf-Anstalten, »daß es nicht angehe, mit Gestapo-Methoden Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und daß die Strafgefangenen korrekt zu behandeln seien«. 5)

Kriegszeiten sind sowieso gesetzlose Zeiten, wo das Tier im Menschen seine Gelegenheit kommen sehen kann, wieder ans Tageslicht zu kriechen.

Joseph Welter

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1) André Link: »Die große Hatz«. »Treibjagd nach Kriegsende«, Editions Saint Paul, 2012.

2) Autos gab es damals in Ettelbrück vielleicht zwei.

3) André Link, S. 183.

4) Ibs.S. 155.

5) S. 120.