Ausland18. Juni 2021

In der Negativspirale

EU-Kommission sagt in neuem Strategiepapier den »Niedergang der Beziehungen zu Rußland« voraus. Deutsche Soldaten singen in Litauen »Geburtstagsständchen für Hitler«

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In einem neuen Strategiepapier zur Rußlandpolitik sagt die EU-Kommission »einen weiteren Niedergang« der Beziehungen zu Rußland voraus und droht mit neuen Sanktionen. Leiste sich die russische Regierung weiterhin »bösartige Handlungen«, dann schließe man weitere Strafmaßnahmen nicht aus, heißt es in dem Dokument, das der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Mittwoch vorgelegt hat. Es soll von den Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfeltreffen Ende kommender Woche abgesegnet werden.

Das Strategiepapier fordert Schritte, um Rußland »zurückzuweisen« und »einzuschränken«, verlangt von Moskau aber gleichzeitig eine Anpassung wirtschaftlicher Regeln an die Wünsche EU-europäischer Unternehmen. Zudem wird eine weitere Einmischung in Rußlands innere Angelegenheiten in Aussicht gestellt. Während Brüssel die neuen aggressiven Schritte ankündigte, wurde bekannt, daß deutsche Soldaten in Litauen nahe der Grenze zu Rußland »Geburtstagsständchen für Hitler« gesungen haben – unmittelbar vor dem 80. Jahrestag des Überfalls der Hitlerwehrmacht auf die Sowjetunion.

»Zurückweisen«, »einschränken« und »zusammenarbeiten«

Das Strategiepapier zur Rußlandpolitik, das der EU-Außenbeauftragte am Mittwoch vorgestellt hat, prognostiziert eine weitere Verschlechterung der schon jetzt miserablen Beziehungen zwischen Brüssel und Moskau. Wörtlich heißt es in dem Papier, die Beziehungen befänden sich in einer »Negativspirale«; diese wird ausschließlich der russischen Regierung angelastet, deren Vorgehen »eine strategische Herausforderung« darstelle. Die EU müsse sich daher auf »einen weiteren Niedergang ihrer Beziehungen zu Rußland« einstellen: Das sei »für die Gegenwart die realistischste Perspektive«. Eine »erneuerte Partnerschaft« sei allenfalls »eine ferne Aussicht«.

In dem Strategiepapier, das die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten auf ihrem Gipfeltreffen Ende kommender Woche offiziell annehmen sollen, werden für die Rußlandpolitik diverse Vorschläge gemacht, die die für das Dokument verantwortlich zeichnende Kommission zu drei Gruppen bündelt. Deren letzte wird unter dem Schlagwort »engage« (»zusammenarbeiten«) geführt; allerdings gehen ihr zwei weitere Vorschlagsgruppen voraus, deren erste mit »push back« (»zurückweisen«) überschrieben ist; die zweite steht unter dem Motto »constrain« (»einschränken«).

»Bösartige Handlungen«

Konkret zieht die EU in Reaktion auf »bösartige Handlungen« der russischen Regierung weitere Sanktionen in Betracht. Dabei könnten bereits verhängte Strafmaßnahmen ausgeweitet, aber auch gänzlich neue beschlossen werden, heißt es in dem Strategiepapier. Ausdrücklich wird auf die Möglichkeit Bezug genommen, Bürger Rußlands mit Einreisesperren zu belegen und etwaiges Vermögen in der EU einzufrieren; das dazu erforderliche Gesetz, das sich am US-amerikanischen »Magnitsky Act« orientiert und mit dem sich die EU faktisch zum Weltrichter aufschwingt, hatten die Außenminister der EU-Staaten Ende 2020 angenommen.

Darüber hinaus kündigt die EU an, eine größere »Resilienz« zu entwickeln; so will sie zum Beispiel entschlossener gegen »ausländische Informationsmanipulation und Einmischung« vorgehen. Explizit aufgelistet wird dabei die East Stratcom Task Force, eine mit Millionensummen finanzierte EU-Stelle, die vorgibt, gegen »russische Desinformation« vorzugehen, faktisch jedoch Positionen der EU-Kommission verbreitet und unter anderem Kritik an der EU als »Fake News« auszugrenzen sucht. Dabei bemüht sich die East Stratcom Task Force explizit, auch jenseits der EU Einfluß zu nehmen. Als unzulässige Einmischung gilt dies – anders als ähnliche russische Schritte – nicht.

»Ökonomische Ärgernisse«

Dem Wort »zusammenarbeiten« schlägt die Kommission zweierlei Aktivitäten zu. Zum einen geht es ihr darum, trotz des eskalierenden Konflikts Wirtschaftsinteressen zu bedienen; so heißt es, Moskau solle »die immense Anzahl ökonomischer Ärgernisse« beseitigen, z.B. Handelsschranken sowie von der EU nicht gewünschte Subventionen. Die Kommission weist explizit darauf hin, daß Rußland fünftgrößter Handelspartner der EU ist und zuletzt für 4,8 Prozent ihres Außenhandels stand. Allein deutsche Unternehmen erzielten vergangenes Jahr trotz der Sanktionen und der Coronakrise im Rußlandgeschäft Handelsumsätze in Höhe von fast 45 Milliarden Euro.

Parallel zur Forderung an Moskau, seine Wirtschaftsnormen an die EU-Wünsche anzupassen, enthält das Strategiepapier die Ankündigung, die Nutzung erneuerbarer Energien noch entschlossener als bisher voranzutreiben, um auf Erdöl und Erdgas aus Rußland verzichten zu können. Zugleich heißt es, man wolle die »Zivilgesellschaft« in Rußland und »unabhängige russischsprachige Medien« stärken – genau die Form der Einmischung, mit der Brüssel sein Vorgehen gegen Moskau zu legitimieren versucht. In diesem Zusammenhang nennt das Strategiepapier explizit die Dumawahlen am 19. September.

Manöver an der russischen Grenze

Während die EU neue aggressive Schritte gegen Moskau ankündigte, wurden gravierende Vorwürfe gegen unweit der Grenze zu Rußland stationierte deutsche Soldaten laut. Die Bundeswehrangehörigen sind dort im NATO-Rahmen tätig und führen die litauische Battlegroup innerhalb der Enhanced Forward Presence (eFP), eines NATO-Dispositivs, das Kampfgruppen auch in Estland, Lettland und Polen umfaßt und Teil des westlichen Truppenaufmarschs in größtmöglicher Nähe zur russischen Grenze ist.

Erst vor kurzem, vom 19. bis zum 30. Mai, hatte die im litauischen Rukla stationierte Battlegroup ihre Einsatzfähigkeit unter Beweis gestellt; in der umfangreichen Militärübung »Iron Wolf« praktizierte sie allerlei Operationen gegen feindliche Truppen, die unschwer als fiktive russische Einheiten zu identifizieren waren. Zum Beispiel ging es darum, ein Gebiet um den litauischen Flugplatz Gaižūnai »im schnellen Feuerkampf« einzunehmen und »den gewonnenen Raum zu halten«. Der deutsche Brigadegeneral Christian Freuding, Kommandeur der Panzerlehrbrigade 9, der das Manöver begleitete, urteilte anschließend, was er »an Leistungen gesehen« habe, sei »auf allen Ebenen sehr überzeugend« gewesen; die Truppe sei »combat-ready« (»gefechtsbereit«).

»Geburtstagsständchen für Hitler«

Das deutsche Kontingent in der litauischen Battlegroup sorgt nun für Schlagzeilen. So wurde bekannt, daß Soldaten eines Bundeswehrzugs mit einer Stärke von rund 30 Soldaten eine Soldatin mit sexualisiertem Mobbing angegriffen und einen Soldaten sexuell mißbraucht haben sollen – mit einer Handlung, für die in Bundeswehrkreisen offenbar sogar ein fester Begriff existiert. Zudem sollen deutsche Militärs einen Kameraden mit afghanischen Vorfahren rassistisch beleidigt und »abfällige Sprüche über Juden« geäußert haben. Nicht zuletzt heißt es, Bundeswehrsoldaten hätten in einer Kaserne der litauischen Armee in Rukla »am 20. April«, dem »Führergeburtstag«, »ein Geburtstagsständchen für Adolf Hitler angestimmt«.

Die Truppe ist auf einst sowjetischem Territorium stationiert, das vor 80 Jahren von der Wehrmacht überfallen wurde; den deutschen Einheiten gelang es damals, das heutige Litauen binnen weniger Tage zu okkupieren. Bereits während die Angriffe noch liefen, begannen sie mit der Vernichtung der mehr als 200.000 litauischen Juden – fast 95 Prozent von ihnen wurden ermordet – und brachten zehntausende polnische Widerstandskämpfer und sowjetische Kriegsgefangene um.