Kultur15. September 2021

25 Jahre Buena Vista Social Club

»Die Blüten des Lebens«

von Nick Kaiser

Vom Schuhputzer zum Star: Eine Woche im Aufnahmestudio vor 25 Jahren macht eine Gruppe kubanischer Musiker einer fast vergessenen, goldenen Generation schlagartig weltberühmt. Manche konnten den Erfolg nicht lange auskosten. Andere zehren noch immer davon.

Der spektakuläre Welterfolg ist ursprünglich eine Notlösung. Der Chef des britischen Weltmusik-Labels World Circuit, Nick Gold, will eigentlich in Havanna eine Platte machen, auf der Musiker aus Kuba und Mali zusammen spielen sollen. Die Afrikaner schaffen es wegen Visumsproblemen aber nicht nach Kuba.

Nick Gold, der US-amerikanische Produzent, und Gitarrist Ry Cooder sowie der kubanische Bandleader Juan de Marcos rekrutieren kurzerhand eine Auswahl von Interpreten kubanischer Musikstile wie Son und Bolero. Einige von ihnen waren schon im goldenen Zeitalter der kubanischen Musik in den 1940er und 1950er Jahre aktiv, sind aber in Vergessenheit geraten.

Innerhalb einer Woche nehmen sie ein Album auf, das sie »Buena Vista Social Club« nennen – nach einem der Nachtclubs für Schwarze in Kuba Anfang des 20. Jahrhunderts, als diese aus den Clubs der Weißen ausgeschlossen waren. Was dann geschieht, ist legendär: Die Platte verkauft sich mehr als acht Millionen Mal und gewinnt einen Grammy.

Ein Vierteljahrhundert sind die Aufnahmen inzwischen her. Zu dem Jubiläum erscheint am Freitag eine limitierte Ausgabe des Albums, unter anderem mit Alternativversionen und bisher unveröffentlichten Liedern aus den Aufnahmen von 1996.

Nicht alle der Musiker waren damals leicht aufzutreiben. Um etwa den Gitarristen Eliades Ochoa aus dem ostkubanischen Santiago für das Projekt zu gewinnen, rief de Marco im Sender Radio Progreso dazu auf, diesem auszurichten, daß er in Havanna gebraucht werde. »In Santiago kennt mich jeder«, sagt Ochoa der Deutschen Presse-Agentur. »Man hat mir Bescheid gesagt, und ich bin nach Havanna gefahren.«

Eliades Ochoa gehörte mit damals 49 Jahren zu den jungen Hüpfern der Truppe. Als Frontmann der traditionsreichen Gruppe Cuarteto Patria war er noch gut im Geschäft. Andere hatten mit der Musik schon abgeschlossen. Der 76 Jahre alte Pianist Rubén González hatte zu Hause längst kein Klavier mehr – Käfer hatten seines zerfressen. Ibrahim Ferrer, der lange in Gruppen gesungen hatte, war vom Musikgeschäft enttäuscht. Er lebte zurückgezogen als Schuhputzer.

Omara Portuondo, die einzige Dame der Original-Gruppe, kam eher zufällig dazu, wie sie sagt. »Sie haben erfahren, daß ich im selben Studio aufnahm, sind zu mir heruntergekommen und haben mich zu sich nach oben eingeladen, und mit ihnen zu singen«, erzählt sie der dpa. In dem historischen Studio der staatlichen Plattenfirma Egrem in Havanna traf sie alte Freunde wieder.

Omara Portuondo schlug nach eigenen Angaben das traurige Liebeslied »Veinte Años« vor, das ihr Vater ihr beigebracht hatte, als sie vier Jahre alt war. Compay Segundo, nach 88 Lebensjahren voller Zigarrenrauch immer noch auf der Höhe seines Könnens, sang es mit ihr. »Und so haben wir es aufgenommen, ohne zu proben«, sagt Portuondo.

Ein Großteil der Musik, den die betagten Künstler aufnahmen, läßt sich dem Son Cubano zuordnen. Dieser entstand als Mischung der Musik der Afrikaner, die Ende des 19. Jahrhunderts als letzte Sklaven nach Kuba kamen, mit europäischer Musik. Das bekannteste Buena-Vista-Lied, »Chan Chan«, hatte Compay Segundo in den 80er Jahren geschrieben. Es handelt von einem Mann und einer Frau, die am Strand Sand sieben. Die Frau schüttelt sich dabei, so daß der Mann verlegen wird.

In Amsterdam und der New Yorker Carnegie Hall gab das Ensemble 1998 viel gefeierte Konzerte. Der deutsche Regisseur Wim Wenders, ein alter Freund Cooders, drehte darüber einen Dokumentarfilm. Cooder habe begeistert erzählt, die 80- und 90-jährigen Musiker auf Kuba strahlten mehr Lebensfreude aus als jeder andere, den er kenne, sagte Wenders damals. Das habe er mit eigenen Augen sehen wollen.

Der Film wurde für einen Oscar nominiert und gab der weltweiten Beliebtheit der Musiker noch einen Schub. Als diese im Weißen Haus auftraten, sagte der damalige USA-Präsident Barack Obama, auch er habe die Buena-Vista-CD gekauft, nachdem der Film 1999 erschienen war.

Viele der Buena-Vista-Künstler stammten aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Ibrahim Ferrer verdingte sich als Hafenarbeiter, nachdem seine alleinerziehende Mutter gestorben war, als er zwölf war. Eliades Ochoa war als Kind Straßenmusiker im Rotlichtviertel von Santiago de Cuba. Bei Omara Portuondo gab es in der Kindheit zu Hause manchmal statt Essen nur Wasser mit Zucker.

Auf ihre alten Tage wurden sie auf einmal Weltstars. Ibrahim Ferrer haderte damit, daß dies erst geschah, als seine Stimme schon nachgelassen und er Probleme beim Gehen hatte. Dennoch sei Ferrer als beliebtester und bekanntester kubanischer Sänger des 20. Jahrhunderts gestorben, sagt de Marco im Film »Buena Vista Social Club: Adiós«.

»Klar, es ist ein bißchen spät«, meint Compay Segundo dort. »Aber früher oder später erreichen dich die Blüten des Lebens.« Der Film der Engländerin Lucy Walker von 2017 dokumentiert das Ende des Buena-Vista-Projekts, inklusive der letzten gemeinsamen Tournee der noch lebenden Mitglieder, die 2016 in Havanna endete.

Im Jahr 2003 starb Compay Segundo mit 95 Jahren. Wenige Monate später war Rubén González tot, zwei Jahre danach auch Ibrahim Ferrer – insgesamt sieben Mitglieder der Originalbesetzung. Omara Portuondo ist 90 Jahre alt, gibt allerdings noch immer Konzerte, auch in Europa. In der Pandemie hat sie in ihrem Wohnzimmer ein Album aufgenommen.

Zuletzt hatte das Buena-Vista-Orchester junge Mitglieder wie Idania Valdés und Rolando Luna neu aufgenommen. Sie sind nicht die Einzigen, die heute auf Kuba noch die alten Musiktraditionen pflegen.

Das ist nach Ansicht von Eliades Ochoa auch ein Vermächtnis des Buena Vista Social Club. Alle jungen kubanischen Musiker, mit denen er spreche, seien davon beeinflußt. Heute werde »Chan Chan« auf Kuba an jeder Ecke gespielt. »Denn die Musiker wissen, daß das auf der Welt gefällt.« So seien zwar die meisten Buena-Vista-Mitglieder nicht mehr physisch unter uns, aber noch immer präsent.

Nick Kaiser, Havanna (dpa)