Ausland15. Dezember 2023

Kernfusion als sichere Alternative zur Kernspaltung?

ITER ist de facto eine energetische Quadratur des Kreises

von Ralf Klingsieck, Paris

Vor 15 Jahren, bei einem ersten Besuch in dem 60 Kilometer nordöstlich von Marseille gelegenen Cadarache, war der dort geplante Forschungsreaktor ITER erst in der Entwurfsphase, und man brauchte viel Phantasie, um ihn sich in dieser Voralpenlandschaft vorzustellen. Für den Laien nach wie vor nicht leicht nachzuvollziehen ist auch das Prinzip des ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor).

»Mit ihm soll erprobt und demonstriert werden, daß Kernfusion als Energiequelle der Zukunft wissenschaftlich und technologisch umsetzbar ist«, bringt es ITER-Sprecher Robert Arnout auf den Punkt. »Da weiß man doch gleich, wohin die Reise geht, schließlich ist Iter das lateinische Wort für Reise.«

Inzwischen hat sich in Cadarache viel verändert. Der etwa 30 Meter im Quadrat große, 30 Meter hohe und 23.000 Tonnen schwere Reaktor ist in der Endmontage und damit bereits handfeste Realität. Im nächsten Jahr soll er fertig werden und 2025 den Probebetrieb aufnehmen.

Diesen Termindruck spürt man. Es geht quirlig zu im riesigen Reaktorgebäude, das innen taghell erleuchtet, außen aber mattschwarz gestrichen und mit spiegelnden Inoxschienen verziert ist. Unter der Decke der Halle bewegt sich auf Schienen ein Kran, der Lasten von bis zu 1.500 Tonnen heben kann. »Den brauchen wir tagtäglich für die Montage der großen und schweren Elemente des Reaktors, manchmal aber auch für eine Demontage, wenn sich bei einer Abnahmekontrolle ein Mangel – zum Beispiel an einer Schweißnaht – ergeben hat und eine Reparatur vor Ort am bereits montierten Teil nicht möglich wäre«, präzisiert Robert Arnout.

Die Reaktorhalle dominiert ein 40 Hektar großes Bergplateau, wo sich auch die vielen anderen Gebäude und Anlagen zusammendrängen, die für den Betrieb des ITER benötigt werden. Dieses Plateau bildet das Zentrum eines insgesamt 120 Hektar großen Geländes, das 2006 vom französischen Staat an die internationale ITER-Organisation abgetreten wurde und das seitdem ein streng bewachtes exterritoriales Gebiet ist, etwa wie die Standorte der UNO in New York und Genf oder der UNESCO in Paris.

33 Staaten beteiligt

Der Organisation ITER, die das Projekt trägt, den Bau finanziert und den künftigen Betrieb des Reaktors betreiben wird, gehören 33 Länder an: die Europäische Union mit all ihren Mitgliedstaaten sowie die USA, Rußland, China, Japan, Südkorea und Indien. Sie repräsentieren die Hälfte der Weltbevölkerung und 85 Prozent des weltweit erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts. Diese Länder haben insgesamt rund 3.000 Ingenieure und Wissenschaftler nach Cadarache entsandt, die mit ihren Familien in der Umgebung leben.

»Der ITER wird der weltweit mit Abstand größte und leistungsfähigste Reaktor für Kernfusionen sein«, betont Robert Arnout. »Nach diesem Prinzip produzieren die Sonne und andere Sterne ihre Energie. Es ist also ein völlig natürlicher Prozeß und ohne Kernfusion wäre Leben auf der Erde nicht möglich.«

Wenn leichte Wasserstoffatome extrem hoch erhitzt werden, verschmelzen sie und geben Energie ab, erläutert er. Unter aktuellen Bedingungen verspreche die Fusion der Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium die beste Energieausbeute. Darum seien sie als Brennstoff für den ITER-Reaktor vorgesehen.

Auf der Erde kann die Kernfusion der Sonne in sogenannten Tokamak-Reaktoren reproduziert werden. Sie wurden bereits in den 1950er Jahren in der Sowjetunion entwickelt, wo man seinerzeit erste Versuche in der Fusionsforschung unternommen hat. Aus dem Russischen stammt auch der Name des Reaktors, der ein Wortspiel ist, denn die ersten drei Buchstaben – Tok – bilden das russische Wort für Strom. Auf Initiative der Sowjetunion begann 1985 die internationale Zusammenarbeit, um Kernschmelzung zur Energiegewinnung zu nutzen. Man versprach sich davon nicht zuletzt, daß eine solche friedliche Kooperation dem Kalten Krieg der Blöcke ein Ende bereiten könnte.

Heute gibt es weltweit rund 200 Tokamak-Reaktoren. Dazu gehört beispielsweise der Joint European Torus (JET) im britischen Culham, der JT-60SA-Tokamak in Japan und der ASDEX (Axialsymmetrisches Divertor-Experiment) in Garching bei München. Doch die meisten Anlagen sind klein, nur einige wenige in Europa, den USA, Japan, China und Rußland haben eine für Testreaktoren nennenswerte Größe, und ITER, der fast zehn Mal so groß wie der JT-60SA und sechs Mal so groß wie der Jet wird, überflügelt sie alle haushoch.

Viele Hoffnungen, keine Garantie

Mit seiner bevorstehenden Fertigstellung verbinden sich viele Hoffnungen, auch wenn es keine Garantie gibt, daß so Marktreife erreicht werden kann, daß also Stromerzeugung unter wirtschaftlich sinnvollen Bedingungen möglich sein wird. Mit einer kommerziellen Nutzung der Ergebnisse ist nach Ansicht der Wissenschaftler nicht vor 2060 zu rechnen. Auf jeden Fall ist und bleibt das Projekt ITER eine wissenschaftlich-technische Herausforderung.

Nach heutigem Stand der Erkenntnisse kann man beim ITER mit einer Energieproduktion von 500 Megawatt (MW) bei einem für den Prozeß nötigen Energieeinsatz von 50 MW rechnen. Das wäre ein Energiemultiplikator von 10. Bei einem industriellen Fusionsreaktor soll später einmal die Energieausbeute dem 30 bis 40-Fachen der verbrauchten Energie entsprechen und ein Gramm Fusionsmasse dem Energiepotenzial von acht Tonnen Erdöl. »Mit dem Lithium, das in einer Laptop-Batterie steckt und dem Deuterium, das im Wasser einer halben Badewanne enthalten ist, könnten dank ITER 200.000 Kilowattstunden Strom produziert und so der Energiebedarf eines Westeuropäers 30 Jahre lang gedeckt werden«, macht Robert Arnout die sich eröffnenden Möglichkeiten deutlich.

Doch das ist die Theorie. In der Praxis sind mit dem ITER natürlich noch viele Unwägbarkeiten verbunden, räumt er ein. Darum sei es auch nicht verwunderlich, daß der Zeitplan schon mehrfach korrigiert werden mußte und daß sich die Kosten erhöht haben, von anfangs kalkulierten 5 Milliarden Euro auf inzwischen 20 Milliarden.

Viel Aufwand für die Montage

Die finanzielle Beteiligung der Mitgliedstaaten erfolgt auf der Basis der Freiwilligkeit. Den größten Anteil haben daran die Zulieferungen von Teilen für den Reaktor und für die ihm vor- oder nachgeordneten technischen Installationen. Wer was liefert, wurde gemeinsam danach entschieden, wozu die einzelnen Länder technisch in der Lage sind.

Beispielsweise hat Indien die komplette Kühlanlage mitsamt des umfangreichen Rohrnetzes, der Pumpen und der Batterien relativ niedriger Temperaturaustausch-Aggregate geliefert, die hier die hohen Kühltürme ersetzen, wie sie früher für Kraftwerke typisch waren. Viele Teile für die rund um den Reaktorkern angeordneten Vakuumkammern und für die dazu gehörenden Magnete kamen aus verschiedenen Ländern Europas und aus China. Dagegen wurde der zentrale Magnet des Reaktors, ein 30 Meter hoher und 1.000 Tonnen schwerer Turm, der sich aus vielen Magnetringen zusammensetzt, in den USA entwickelt und gebaut. »Die amerikanischen Ingenieure sind besonders stolz darauf, daß man mit dieser Magnetkraft einen Flugzeugträger anheben könnte«, erzählt Robert Arnout.

Weil fast alle Teile des ITER-Reaktors und seiner Serviceanlagen sehr groß und schwer sind, kamen sie alle übers Meer bis zum Zielhafen Marseille-Fos. Für die aufwendigen Spezialtransporte über den rund 100 Kilometer langen Weg von Fos bis nach Cadarache wurden Nebenstraßen streckenweise verbreitert oder begradigt. Um den im Wege liegenden Binnensee Etang de Berre zu nutzen und so viele Kilometer Umweg per Straße einzusparen, wurde extra ein breites Schwimm-Ponton gebaut, das über eine ungewöhnlich große Tragfähigkeit verfügt und zusammen mit einem Schubschiff wie ein Schiffsverband manövriert werden kann. So rollten nahe dem Hafen Fos die Tieflader mit den jeweiligen Teilen sowie den Zug-Lkw auf das Ponton und nach der Fahrt über den großen See an dessen anderem Ende wieder herunter.

Robert Arnout erzählt, daß jeder Sondertransport zeitlich so aufgeteilt wurde, daß die Fahrt von Fos bis Cadarache in vier aufeinander folgenden Nächten absolviert wurde. Dadurch konnten die Verkehrseinschränkungen gering gehalten werden und die zu kreuzenden Autobahnen mußten immer nur für relativ kurze Zeit gesperrt werden. »Doch all das liegt hinter uns«, versichert Robert Arnout.

»In diesem Herbst haben wir die letzten großen Teile bekommen. Soweit sie nicht sofort eingebaut werden können, werden sie gut verpackt zwischengelagert. Jetzt konzentriert sich alles auf die Endmontage.« In dieser Phase arbeiten täglich bis zu 5.000 Personen auf der Baustelle, denn zu den 1.200 ITER-Mitarbeitern aus der ganzen Welt kommen 2.500 Mitarbeiter von Partnerfirmen aus dem In- und Ausland sowie 1.300 Beschäftigte von Energieunternehmen, die für die umfangreichen Verkabelungen sorgen.

Viel Optimismus bei der EU…

»ITER ist eine Investition in eine bahnbrechende Technologie, die in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts fester Bestandteil des europäischen Energiemixes werden könnte«, versichert in Brüssel ein Sprecher der EU-Kommission. »Als CO2-arme, klimafreundliche Lösung könnte die Kernfusion zusammen mit erneuerbaren Energieträgern für einen ausgewogenen und nachhaltigen Energiemix sorgen.«

Zu Gefahren angesprochen, wiegelt ein Experte der Kommission ab. »Kernfusion ist weitgehend ungefährlich. Es entsteht nur kurzzeitig relativ leichte gasförmige Radioaktivität, die sich schnell wieder abbaut. Bei einer Störung bricht die Reaktion einfach ab. Strahlender Atommüll wird dabei nicht erzeugt.«

…und Widerspruch von Atomkraftgegnern

Das sehen Atomkraftgegner kritischer. So sagt Martial Chateau, Sprecher des Netzwerkes »Sortir du nucléaire«, dem landesweit rund 900 Vereine und mehr als 60.000 einzelne Personen angehören: »Mit dem Wissenschaftsprojekt der Kernfusion wird eine unbegrenzte Energieproduktion vorgegaukelt, dabei handelt es sich zunächst nur um ein abgrundtiefes Loch, in das bereits 20 Milliarden Euro versenkt wurden, denen wohl noch etliche Milliarden folgen dürften.« Davon müsse Frankreich mindestens 9 Prozent tragen, also bisher bereits mehr als 2 Milliarden Euro.

Im Zeitraum seit Mitte der 1970er Jahre habe die Kernschmelze bereits mehr als 10 Prozent der Mittel für Forschung und Entwicklung im Energiebereich auf Kosten der Umsetzung der »Energiewende« verschlungen. »Die gleichen Summen, für erneuerbare Energien und Energiesparmaßnahmen ausgegeben, würden weitaus mehr Arbeitsplätze schaffen, und das bei einer effektiven und dauerhaften Verringerung der Umweltverschmutzung und der CO2-Emissionen«, ist Martial Chateau überzeugt.

Beim ITER handele sich um nicht mehr als ein riskantes und teures Experiment, das keine garantierten Ergebnisse bringen wird, sondern nur auf hypothetischen Versprechungen beruht und bei dem längst noch nicht sicher sei, ob so jemals Strom erzeugt werden kann. »Doch vor allem ist es ein teurer, zeitraubender und ungewisser Umweg, wenn man bedenkt, wie dringend es wäre, schnelle und effiziente Lösungen gegen die globale Erwärmung zu finden«, meint Martial Chateau.

Außerdem verweist er darauf, daß sich der Standort Cadarache in einem erdbebengefährdeten Gebiet befindet, daß dort für das Projekt bereits 42 Hektar Wald geopfert wurden, ganz zu schweigen von den Flächen, die durch die Nebengebäude, die Zufahrtsstraßen und die für den Betrieb unerläßlichen Höchstspannungsleitung beeinträchtigt werden.

Martial Chateau erläutert, daß es sich bei einem der ITER-Brennstoffe um Tritium handelt, einen radioaktiven Wasserstoff, der nur in sehr geringen Mengen in der Natur vorkommt. Daher muß der größte Teil erst in einem traditionellen Kernspaltungsreaktor produziert werden, womit also doch Risiken verbunden sind und radioaktiver Abfall anfällt.