Ausland03. September 2015

Die langlebige Lüge

Hiroshima und Nagasaki – eine Nachlese

»Wenn Harry S. Truman kein Kriegsverbrecher war, dann hat es nie einen solchen gegeben« – der US-Präsident beim Verkünden der Kapitulation Japans im Oval Office


Ende Juli erschien das Buch »Nagasaki: Der Mythos der entscheidenden Bombe«, und kurz darauf, am 3. August, sendete die ARD die Dokumentation »Nagasaki – Warum fiel die zweite Bombe?«. In beiden Fällen ging es dem Autor und NDR-Sonderkorrespondenten Klaus Scherer um die Frage, warum am 9. August 1945 eine zweite Atombombe auf die japanische Hafenstadt Nagasaki abgeworfen wurde. Es »war ein Feldtest, ein Menschenversuch«, sagte Scherer im Deutschlandfunk. »Es gab zwei (Bomben), weil es zwei Rohstoffe dafür gab, Uran und Plutonium. Deswegen sollten auch beide fallen, aber nötig waren sie nicht.«

In seinem ARD-Film erwähnte Scherer Veröffentlichungen von USA-Historikern, die sehr an der These rüttelten, der Abwurf der Bomben habe das Leben Abertausender USA-Soldaten gerettet und den Krieg verkürzt. 70 Jahre später an dieser Behauptung zu rütteln, ist löblich. In den USA allerdings wird das seit etlichen Jahren getan, nur eben nicht in den dortigen Mainstream- oder Leitmedien. So mußte das renommierte Pew Research Center erst kürzlich konstatieren, daß immer noch 56 Prozent der US-Amerikaner den Einsatz der Bomben aus obengenannten Gründen für rechtens halten.

Diese Mehrheit kann keinen Schimmer haben von Schriften namhafter Publizi­sten, Historiker und Mediziner wie, um nur einige zu nennen, Greg Mitchell, Barton J. Bernstein, Anthony Gregory, Ralph Raico, Dennis D. Wainstock, Sheldon Richman, David R. Henderson, Gar Alperovitz, Charles W. Johnson oder Gary G. Kohls. Was diese Autoren eint, ist die Erkenntnis, daß der Einsatz beider Bomben in Japan ethisch-moralisch zutiefst verwerflich, militärisch völlig unsinnig und letztlich ein gigantisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein Akt von Staatsterrorismus war.

Der Historiker Ralph Raico etwa bewertete »die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki« unmißverständlich als »Kriegsverbrechen – schlimmer als solche, für die japanische Generäle in Tokio und Manila hingerichtet wurden. Wenn Harry S. Truman kein Kriegsverbrecher war, dann hat es nie einen solchen gegeben.« USA-Präsident Truman log überdies ungeniert, als er Hiroshima eine »Militärbase« nannte, die Bombe indes während des morgendlichen Hauptverkehrs unmittelbar über dem Stadtzentrum detonieren ließ. Trumans Stabschef, Admiral William D. Leahy, sah in dem Präsidenten folgerichtig nicht nur einen Kriegsverbrecher, sondern einen Massenmörder und Lügner.
Auch für die USA-Generäle Dwight D. Eisenhower, Douglas MacArthur und Carl Spaatz war der Einsatz der Bomben militärisch unnötig und moralisch nicht zu rechtfertigen. Sie wiesen darauf hin, daß Japan nach Ausschaltung seiner Luftwaffe kurz vor der Kapitulation stand. Admiral William Halsey Jr. erklärte den »Fehler« zynisch damit, daß die Wissenschaftler »dieses Spielzeug hatten und testen wollten, deshalb ließen sie es fallen«. Selbst der später im Vietnamkrieg als »Superfalke« berüchtigte Generalmajor Curtis LeMay, Chef des 21. Bomberkommandos, tat einen Monat nach den Abwürfen öffentlich kund, daß diese nichts mit dem Kriegsende zu tun gehabt hatten. Von entscheidender Bedeutung war vielmehr Stalins Aufkündigung des zwischen Moskau und Tokio im Frühjahr 1941 ausgehandelten Neutralitätspaktes und seine Kriegserklärung an Japan am 8. August 1945. Die US-amerikanischen Nachrichtendienste hatten zuvor die japanischen Codes geknackt und wußten sehr genau, daß Japan die UdSSR um diplomatisch-politische Hilfe beim Herbeiführen eines Kriegsendes ersucht hatte, welches das Kaiserhaus unangetastet ließ.

Als wohl langlebigste Rechtfertigung für den Abwurf der Bomben erwies sich das fabrizierte Argument, diese hätten das Leben von bis zu einer Million US-Amerikaner gerettet. Für den Fall eines nötigen Einmarschs mit Bodentruppen rechnete man in Washington mit wenigstens einer halben Million toten USA-Soldaten, während Militärstrategen den »Worst Case« bei 46.000 veranschlagten. Die abstruse Arithmetik war durchtränkt von offenem Rassismus, wie er sich erst recht in den folgenden Kriegen in Korea und Vietnam zeigen sollte, wo »die Asiaten« lediglich als »gooks« – soviel wie »hinterlistige Schlitzaugen« – wahrgenommen wurden.

Bis heute tauchen die immens aufgeblähten Zahlen in High-School- und College-Büchern auf sowie bei unbelehrbaren Kommentatoren. George H. W. Bush behauptete 1991 als Präsident sogar, die Atombomben hätten »Millionen amerikanischer Leben verschont«. James Byrnes hingegen, USA-Außenminister von 1945 bis 1947,betrachtete den Einsatz der Bomben martialisch als »Rute«, mit der sich die Sowjetunion der Nachkriegsära »züchtigen« ließ.

Über Filme und Schriften zum Thema wachten die Zensoren im Weißen Haus lange mit Argusaugen. Davon konnte vor allem der Australier Wilfred G. Burchett, ein investigativer Journalist, ein Lied singen. Er war als erster westlicher Reporter nach Hiroshima gelangt. Seine Berichte über die bis dato unbekannte Verseuchung durch radioaktive Strahlen konnten in den US-amerikanischen Massenmedien nicht erscheinen. Als das USA-Militär dann im Koreakrieg (1950–53) flächendeckend Napalm einsetzte, Staudämme zum Bersten brachte und mit Dauerbombardements die Zivilbevölkerung unter Beschuß nahm, veröffentlichte er im heimischen Melbourne sein Buch »Dieser monströse Krieg«. Das für die USA bestimmte Buchkontingent wurde vom dortigen Zoll hurtig beschlagnahmt und im Meer versenkt.

Rainer Werning