Ausland11. Februar 2023

Verloren in Syrien

von Karin Leukefeld

Das schwere Erdbeben, das am Montagmorgen das türkisch-syrische Grenzgebiet erschütterte, hat bereits weit mehr als 20.000 Menschenleben gefordert. Doch mit jeder Stunde steigen die Opferzahlen und die Schäden werden deutlich. Sowohl in der Türkei als auch in Syrien sprachen Überlebende davon, daß sie an den Weltuntergang dachten, als die Erde unter ihnen bebte und ihre Heimat, ihre Nachbarschaft, ihre Familien, ihren Alltag, ihr Lebenswerk und alle Pläne zerstörte.

Das Erdbeben ist für die Menschen jenseits aller Grenzen eine schreckliche Erfahrung und eine schwere Belastung. Für das kriegszerstörte, international vom Westen politisch, wirtschaftlich und medial blockierte Syrien ist die Last dennoch größer. Krieg und Wirtschaftskrieg, Flucht und Vertreibung, Tod und Zerstörung – Syrien hat seit 2011 alles verloren, was es aus eigener Kraft aufgebaut hatte. Bei der international versprochenen Hilfe für die Menschen in den verwüsteten Gebieten werden große Unterschiede deutlich. USA, EU und auch die deutsche Bundesregierung verteilen ihre Hilfe selektiv.

Türkei

Der Türkei wurde aus 70 Staaten Hilfe versprochen, Millionensummen wurden in Aussicht gestellt oder schon überwiesen. Flugzeuge mit ersten Hilfslieferungen landeten auf Flughäfen in der Türkei, die nicht von dem Erdbeben beschädigt waren. Nach offiziellen Angaben aus Ankara seien 36 Staaten bereits mit Hilfe vor Ort, mehr als 3.300 Rettungshelfer im Einsatz. Allein die EU schickte mehr als 1.000 Helfer in das türkische Erdbebengebiet, die deutsche Innenministerin Nancy Faeser erklärte: »Wir stehen eng an der Seite der Türkei.«

Notstromaggregate, Zelte und Decken würden geschickt, das Technische Hilfswerk (THW) sende Bergungs- und Rettungsteams. Sie habe der Türkei angeboten, daß das THW »Camps mit Notunterkünften und Wasseraufbereitungsanlagen zur Verfügung« stelle, so Faeser. Die Unterstützung werde »eng mit der Türkei koordiniert«. Medien schickten Reporter vor Ort, um von dem Elend rund um die Uhr zu berichten.

Syrien

Syrien wartet derweil noch auf Hilfe der reichen, westlichen Länder, um die das Land bereits am Tag des verheerenden Erdbebens gebeten hatte. Das Außenministerium in Damaskus hatte sich an die Mitgliedstaaten der UNO gewandt, an das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und andere humanitäre Organisationen, um Syrien bei der Bewältigung der schrecklichen Auswirkungen des Erdbebens zu helfen. Der syrische Außenminister Faisal Mekdad versicherte, die Regierung werde alles tun, um den internationalen Organisationen jede notwendige Unterstützung zu leisten, die sie bräuchten, um den Syrern mit humanitärer Hilfe zur Seite zu stehen.

Ein Sprecher der EU-Kommission behauptete allerdings am folgenden Tag, man habe kein Hilfeersuchen aus Damaskus erhalten. Der Katastrophenschutz-Mechanismus sei daher nur für die Türkei ausgelöst worden.

Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin war zu hören, die »bereits bestehende umfassende humanitäre Hilfe in Nordwestsyrien durch humanitäre NGOs und UNO-Organisationen« werde fortgesetzt. Das »dort bestehende und etablierte Partnernetzwerk« werde »auch in der aktuellen Situation helfen, schnell und direkt zu reagieren und die notleidenden Menschen zu unterstützen«. Deutschland werde »auf der Grundlage des in den nächsten Tagen veröffentlichten UNO-Nothilfeplans umfangreiche weitere Hilfe vorbereiten.«

Selektive Hilfe

Die deutsche Bundesregierung, die sich immer wieder rühmt, daß Deutschland zweitgrößter Geber »für die notleidende syrische Bevölkerung« sei, sucht sich mit den Menschen im Nordwesten Syriens diejenigen aus, denen Hilfe zuteilwerden soll. Die syrischen Opfer – allein in Aleppo sind mehr als 100.000 Menschen obdachlos geworden – werden gespalten. Die Not wird benutzt, um den politischen Druck auf die syrische Regierung zu verschärfen. Der syrischen Regierung wird unterstellt, den vom Erdbeben betroffenen Menschen nicht zu helfen. Außenministerin Annalena Baerbock erklärte dazu am Dienstag vor Journalisten, in Syrien, »wo die Menschen unter dem Assad-Regime auf keine Hilfe hoffen können«, unterstütze man die humanitären Partner und werde weiter »auf einen humanitären Zugang drängen«.

Baerbock hatte schon am Montag, unmittelbar nach Bekanntwerden der katastrophalen Ausmaße des Erdbebens, gefordert, Syrien solle »seine Grenzen in die Türkei öffnen«, um Hilfslieferungen zu ermöglichen. Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, Deutschland liefere Hilfsgüter in die Türkei, die mit Hilfe der UNO (aus der Türkei) in das syrische Erdbebengebiet gebracht werden könnten. »Jetzt zeigt sich wieder einmal, wie lebenswichtig dieser grenzüberschreitende Zugang ist, für den wir uns seit Jahren (im UNO-Sicherheitsrat, kl) einsetzen«, sagte er

Scholz spricht von Bab al Hawa, einem Grenzübergang zwischen der Türkei und der syrischen Provinz Idlib, der von Hayat Tahrir al-Scham (HTS), Nachfolger der Nusra-Front, die aus Al Qaida im Irak hervorgegangen ist, kontrolliert wird. Aufgrund der UNO-Sicherheitsratsresolution 2678, die im Januar 2023 für 6 Monate verlängert wurde, können unter Aufsicht der UNO Hilfsgüter aus der Türkei nach Idlib gebracht werden. Syrien lehnt die Resolution ab, weil dem Land damit die souveräne Kontrolle über den Grenzübergang genommen wird. Rußland, China und andere Staaten unterstützen Syrien und fordern, daß der Grenzübergang geschlossen und Hilfsgüter aus Syrien in alle Teile des Landes verteilt werden. Die von der Türkei und zahlreichen ausländischen Staaten unterstützten bewaffneten Regierungsgegner um HTS in Idlib lehnen das ab.

UNO-Sprecher Stephane Dujarric verwies am Dienstag in New York darauf, daß der Grenzübergang Bab al-Hawa und die dort hindurchführende Straße durch das schwere Erdbeben beschädigt worden seien. Die Politik solle »beiseite« gelassen werden, mahnte der Sprecher. Gefragt sei eine Lösung, wie die Hilfe bei den Menschen ankomme, die alles verloren hätten und in eisiger Kälte ausharren müßten.

In der Stunde der Not

Während die EU und die USA den Hilferuf aus Damaskus nicht hörten, reagierten andere Länder sofort. Am Dienstag landete ein Flugzeug aus dem Iran mit 45 Tonnen Hilfsgütern in Damaskus. Teheran bot sowohl der Türkei als auch Syrien die Hilfe des Iranischen Roten Halbmonds und iranischer Rettungstrupps an. Am Mittwoch landeten Flugzeuge aus Indien, Irak und Algerien mit Helfern, Suchtrupps und Hilfsgütern auf den Flughäfen von Damaskus und Latakia. Hilfsgüter kamen auch aus Ägypten und Jordanien per Flugzeug an. Der Oman kündigte eine Luftbrücke an, auch Armenien sagte Hilfe zu. Die Vereinigten Arabischen Emirate wollen ein Feldlazarett errichten und ein Rettungsteam schicken. Rußland sandte Rettungsteams, die halfen, Überlebende und Tote in Aleppo zu bergen.

Der Libanon gehörte am Montag zu den ersten Ländern, die Rettungskräfte des libanesischen Zivilschutzes, Freiwillige der Roten-Kreuz-Gesellschaft und privater Hilfsorganisationen sowie Militärtechniker und Ingenieure nach Syrien schickte. Am Mittwoch folgte eine Delegation der amtierenden Interimsregierung unter Leitung von Transportminister Ali Hamieh. Das Land öffnete darüber hinaus seinen Luftraum und die Häfen für Hilfslieferungen nach Syrien und setzt damit ausdrücklich die von der EU und den USA gegen Syrien verhängten einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen außer Kraft.

Ziel ist, die Nothilfe für das Land zu beschleunigen. Alle Unternehmen, die Lieferungen und Ausrüstungsgegenstände für Syrien transportierten, seien von Hafengebühren befreit, hieß es am Dienstag in Beirut. Das Gleiche gelte für Luftfracht, die über den Internationalen Rafik-Hariri-Flughafen nach Beirut gelangt. »Das ist das Mindeste, das wir für unser Bruderland in der Stunde der Not tun können«, erklärte der amtierende libanesische Transportminister Ali Hamieh.

Im Namen der Menschlichkeit

Der direkteste Weg der Hilfe für die Menschen in Syrien sind die beiden Flughäfen in Damaskus und Aleppo. Dafür müßten EU und USA ihre einseitigen Sanktionen gegen Syrien aufheben oder aussetzen. Alena Douhan, UNO-Sonderberichterstatterin für die Auswirkungen einseitiger Strafmaßnahmen auf die Menschenrechte der Bevölkerung eines betroffenen Landes, konkret in Syrien, hatte nach einem 12-tägigen Aufenthalt und Dutzenden Gesprächen die sofortige Aufhebung der Sanktionen gefordert. Deren Auswirkungen auf die Bevölkerung kämen einem »Kriegsverbrechen« gleich.

Auf die Frage der Autorin, ob die deutsche Bundesregierung im Rahmen der EU oder einseitig dazu bereit sei, angesichts des Erdbebens der Forderung der UNO-Sonderberichterstatterin nachzukommen, verwies das Auswärtige Amt auf eine »Nachreichung zur Regierungspressekonferenz am 11.11.2022«:

»Wir haben die Äußerungen von Frau Douhan zur Kenntnis genommen. Wir wissen nicht, wie – also unter welchen Eindrücken und mit Hilfe welcher Methodik – die Sonderberichterstatterin zu ihren Schlußfolgerungen gelangt ist. Klar ist für uns, daß das Assad-Regime die Verantwortung für die katastrophale Lage in Syrien trägt. Das Regime führt weiter einen brutalen Krieg gegen die eigene Bevölkerung, es begeht beständig Menschenrechtsverletzungen und blockiert jeden politischen Lösungsansatz für den Konflikt. Wir wissen auch, daß das Regime und seine Unterstützer – wie Rußland – in zynischer Art und Weise immer wieder die EU-Sanktionen für das Leiden im Land verantwortlich machen. Richtig ist: Die EU-Sanktionen richten sich gezielt gegen diejenigen, die sich in Syrien schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben. Und sie sehen zugleich sehr klare und weitreichende humanitäre Ausnahmen vor.«

Die Realität spricht eine andere Sprache. Es fehlt an allem, was Syrien ursprünglich selber hergestellt hat. Die Sanktionen und Handelsbeschränkungen fördern dagegen Schmuggel und Korruption an und über sämtliche Grenzen in die Türkei, in den Irak, nach Jordanien und in den Libanon. Es fehlt an Gas und Öl, weil USA-Truppen die nationalen syrischen Ölfelder im Nordosten des Landes besetzt halten und Syrien den Zugang verwehren.

Ein Grenzübergang nach Jordanien und Irak wird von USA-Truppen mit der illegalen Militärbasis Al Tanf (Dreiländereck Syrien-Irak-Jordanien) blockiert, so daß Hilfstransporte aus Irak oder Iran auf dem Landweg nicht nach Syrien gelangen. Der syrisch-irakische Grenzübergang Al Bukamal wird immer wieder von Israel – das sich nicht dazu erklärt – angegriffen. Kürzlich erst war ein Konvoi aus Iran mit Medikamenten und Nahrungsmitteln zerbombt worden.

Der Individual-, Nah- und Fernverkehr im Land ist fast zum Erliegen gekommen, weil Autofahrer und Busse nicht genügend Treibstoff finden oder die hohen Preise auf dem Schwarzmarkt nicht bezahlen können. Inflation und Teuerung ist hoch, die Menschen suchen im Abfall nach Eßbarem. Christliche und muslimische Hilfsorganisationen und Stiftungen geben Menschen an ihren Toren zu essen. Ein Falafel-Sandwich, das vor dem Krieg für 25 Syrische Pfund (Lira, damals ca. 50 US-Cent) eine beliebte Zwischenmahlzeit war, die jeder sich leisten konnte, kostet heute 10.000 Lira (ca. 1,50 US-Dollar), und kaum jemand kann sich diesen Snack noch leisten. Die Folgen der Sanktionen sind ausführlich in dem Douhan-Bericht nachzulesen.

Daß die westlichen, reichen Staaten nicht dazu bereit sind, angesichts des Elends und der Sorgen der Menschen und der örtlichen Behörden in Syrien auf ihre einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen und die anhaltende Dämonisierung der syrischen Regierung zu verzichten, wird im Land mit Bitterkeit kommentiert.

»Wir wollen ihr Geld nicht, wir wollen keine Wohltaten«, sagt ein Familienvater, der seinen Namen nicht nennen möchte. »Sie sollen nur die Blockade gegen unser Land aufheben, dann können wir uns selber helfen.« Die USA sollten Syrien verlassen, dann könne Syrien wieder die eigenen Ölressourcen nutzen, so der Mann weiter. »Sie klagen uns an, den Menschen nicht helfen zu wollen und uns an Hilfsgütern zu bereichern. Aber sie sind es, die unser Land besetzt halten und sich an unserer Not, an unseren Ressourcen, dem Öl, dem Weizen, der Baumwolle bereichern.«

Es sei »wie das Jüngste Gericht« gewesen, sagt Fadi I. aus Aleppo: Menschen versuchen, eine Leiter zu bilden, um ein totes Kind zu bergen, das zwischen herabgestürzten Steinbrocken hängt. »Im Namen der Menschlichkeit – beendet die Sanktionen gegen Syrien«, steht unter einem Foto.

»Es war wirklich schrecklich, sehr schrecklich«, sagt Anas B., Student der Architektur in Aleppo, mit unsicherer Stimme. Seiner Familie gehe es gut, »Gott sei Dank«. Anas wohnt in Neu Aleppo, wo die Häuser nicht so hoch und stabil gebaut sind. Während des Krieges wurde dort nicht so viel zerstört wie im Osten und im Zentrum der Stadt, wo die meisten Erdbebenopfer zu beklagen sind. Wegen der vielen Nachbeben habe die Familie zwei Nächte im Auto geschlafen, erzählt Anas. Jetzt seien sie damit beschäftigt, den Überlebenden zu helfen. »Wir sammeln Decken, warme Kleidung, bereiten Essen zu – ich hoffe, daß wir helfen können. Aber es ist so viel, so schrecklich.«

Anas steckt in den Abschlußprüfungen seines Studiums, doch nun wisse er nicht, wo sie studieren könnten. Der Stadtrat von Aleppo hat Schulen zu Notunterkünften erklärt, die Universitäten sind geschlossen. »Wir sind ratlos, wir wissen nicht, wie das Studium weitergehen kann«, sagt Anas und verstummt.

Almosen für Syrien,
Milliarden für den Krieg

Am Mittwochnachmittag wurde bekannt, daß die syrische Regierung sich direkt an die EU gewandt und einen Antrag auf Katastrophenhilfe gestellt hat. Man habe eine »lange Liste gängiger Katastrophenschutzgüter« erhalten, sagte EU-Kommissar Janez Lenarcic, der in Brüssel das Ressort für Krisenmanagement leitet. Gefragt werde nach Medikamenten, Lebensmitteln und nach medizinischen Geräten. Er ermutige die EU-Staaten, auf den Antrag aus Syrien zu reagieren, sagte der Kommissar.

Am Donnerstag wurde gemeldet, die EU habe eine »Soforthilfe« in Höhe von 3,5 Millionen Euro für Syrien bewilligt. Zum Vergleich: Kommissionschefin Ursula von der Leyen verkündete am selben Tag anläßlich des Besuchs des ukrainischen Präsidenten in Brüssel, die EU und ihre Mitgliedstaaten hätten bisher die Ukraine mit 67 Milliarden Euro unterstützt.

Am Vortag hatte NATO-Generalsekretär Stoltenberg in Washington eine Summe von 112 Milliarden Euro bekanntgegeben, die bisher von den NATO-Staaten für den Krieg in der Ukraine aufgebracht wurden.